Ivo Andric
zustande
gebracht, was in der Stadt das Allerschwerste war, daß sich ein junger Bursche
und ein Mädchen an versteckter Stelle treffen, ohne daß dies jemand sieht oder
erfährt. Sie hatten sich in ihrer Schule getroffen, die jetzt, während der
Ferien, völlig verlassen war. Er war aus der einen Straße, durch den Garten,
hineingegangen, und sie aus der anderen, durch den Haupteingang. Getroffen
hatten sie sich in einem halbdunklen Raum, in dem bis zur Decke Schulbänke
aufgestapelt waren. So muß die Liebesleidenschaft oft abgelegene und häßliche
Orte aufsuchen. Sie hatten weder sitzen noch liegen können. Beide waren sie befangen
und ungeschickt gewesen. Und, zu begierig und heftig, hatten sie sich auf einer
jener abgenützten Bänke, die sie so gut kannte, umarmt und vereinigt, ohne
etwas von ihrer Umgebung zu sehen oder zu bemerken. Als erster hatte er sich
ernüchtert, und grob, ohne Übergang, wie es junge Menschen tun, hatte er
ungeschickt seine Kleider geordnet und sich verabschiedet. Das Mädchen hatte
begonnen zu weinen. Die Enttäuschung war beiderseitig gewesen. Nachdem er sie
irgendwie beruhigt, hatte er sie, fast fliehend, durch den Nebenausgang der
Schule verlassen.
Zu Hause hatte er den Briefträger
getroffen, der ihm die Jugendzeitschrift mit seinem Artikel »Der Balkan,
Serbien und Bosnien und die Herzegowina« brachte. Er hatte seinen Artikel noch
einmal gelesen, und das hatte seine Gedanken von diesem Erlebnis abgelenkt.
Aber auch darin hatte er Ursache zur Unzufriedenheit gefunden. In dem Artikel
waren Druckfehler gewesen, einige Sätze waren ihm lächerlich erschienen,
jetzt, da sich nichts mehr ändern ließ, schien es ihm, daß sich viele Dinge
hätten schöner, klarer und gedrängter sagen lassen.
Und nun saßen sie den ganzen Abend
auf der Kapija und diskutierten vor derselben Zorka über seinen Artikel. Sein
Hauptgegner war der beredte und kampflustige Herak, der alles vom
orthodox-sozialistischen Standpunkt aus betrachtete und kritisierte. Die beiden
Lehrerinnen aber schwiegen und flochten dem Sieger unsichtbare Kränze.
Stikowitsch verteidigte sich schwach, erstens weil er jetzt plötzlich selbst
viele Schwächen und unlogische Stellen in seinem Artikel erkannte, auch wenn
er dies um keinen Preis vor den anderen zugegeben hätte, und zweitens, weil ihn
die Erinnerung an den heutigen Nachmittag in dem staubigen und schwülen
Schulzimmer und jene Begebenheiten quälten, die ihm jetzt lächerlich und
häßlich vorkamen, die aber lange Gegenstand seiner heißesten Wünsche und
lebhaftesten Bemühungen um die schöne Lehrerin gewesen waren. (Sie saß jetzt
hier in der sommerlichen Dunkelheit und betrachtete ihn mit ihren glänzenden Augen.)
Er fühlte sich als Schuldner und wie ein Schuldiger und hätte viel darum
gegeben, wäre er heute nicht in der Schule gewesen und sie jetzt nicht hier. In
dieser Stimmung erschien ihm Herak wie eine angriffslustige Wespe, deren er
sich schwer erwehren konnte. Es schien ihm, als müsse er sich nicht nur seines
Artikels wegen verantworten, sondern auch dessentwegen, was heute nachmittag in
der Schule geschehen. Am liebsten wäre er jetzt allein gewesen, irgendwo weit
von hier, wo er ruhig über irgend etwas nachdenken könnte, was weder Artikel
noch Mädchen hieß. Aber die Eigenliebe trieb ihn, sich zu verteidigen.
Stikowitsch zitierte Zwijitsch und Stroßmajer und Herak Kautsky und Bebel.
»Ihr zäumt das Pferd von hinten
auf«, schrie Herak, während er Stikowitschs Artikel zerpflückte. »Mit dem
Balkanbauern, der in Armut und jeglicher Not aufgewachsen ist, kann man in keinem
Falle ein dauerhaftes und gutes Staatsgebilde begründen. Nur die vorhergehende
wirtschaftliche Befreiung der ausgebeuteten Klassen, der Bauern und Arbeiter,
also der überwältigenden Mehrheit des Volkes, kann die realen Voraussetzungen
für die Bildung selbständiger Staaten schaffen. Das ist der natürliche Prozeß
und der Weg, den man einschlagen muß, keinesfalls aber umgekehrt. Die nationale
Befreiung, wie die Vereinigung, müssen daher im Geiste der sozialen Befreiung
und Wiederge burt vollzogen werden, sonst wird es geschehen, daß der Bauer,
der Arbeiter und der Kleinbürger auch in die neuen Staatsgebilde als
todbringenden Keim ihr Armeleutegefühl mit ihrem Sklavengeist und die
zahlenmäßig geringen Ausbeuter ihre parasitenhafte und reaktionäre Mentalität
und alle ihre antisozialen Neigungen hineintragen. Und daraus kann weder ein
dauerhafter Staat noch eine
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