Ivo Andric
ein geborener Polemiker,
der sich seines guten Herzens schämte und jegliches Gefühl verbarg. Ranko
Michajlowitsch, ein schweigsamer und gutmütiger Jüngling, der in Zagreb
Rechtswissenschaft studierte, schon jetzt an seine Beamtenkarriere dachte und
an den kameradschaftlichen Disputen und Gesprächen über Liebe, Politik,
Lebensauffassung und Gesellschaftsordnung nur wenig und nur mit halbem Herzen
teilnahm. Von mütterlicher Seite war er ein Urenkel jenes Popen Michailo,
dessen Kopf, mit einer Zigarette im Munde, auf einen Pfahl gespießt, auf dieser
gleichen Kapija ausgestellt worden war.
Hier saßen auch einige Gymnasiasten
aus Sarajewo, die gierig den älteren Kameraden und ihren Gesprächen über das Leben
in den großen Städten lauschten und sich in ihrer Phantasie, die schülerhafte
Eitelkeit und schlummernde Wünsche beflügelten, alles noch viel größer und
schöner vorstellten, als es war und sein konnte. Da war auch Nikola
Glasintschanin, ein blasser und steifer Jüngling, der infolge Armut, schwacher
Gesundheit und geringer Erfolge das Gymnasium nach der vierten Klasse verlassen,
in die Stadt zurückkehren und einen Schreiberposten bei einer deutschen Firma,
die Holz ausführte, annehmen mußte. Er stammte aus einer heruntergekommenen
angesehenen Familie vom Okolischte. Sein Großvater starb kurz nach der Besetzung
in einem Irrenhaus in Sarajewo, nachdem er in seiner Jugend den größeren Teil
des Besitzes verspielt hatte. Schon seit langem war auch sein Vater, Herr
Peter, ein kränklicher Mann ohne Willen, Kraft und Ansehen, gestorben. Dieser
Nikola verbrachte nun den ganzen Tag am Flußufer bei den Arbeitern, die die
schweren Fichtenstämme wälzten und flößten, schrieb die Kubikmeter Holz auf,
zählte sie hernach in der Kanzlei zusammen und übertrug sie in Listen. Diese
einförmige Arbeit unter kleinen Leuten, ohne Schwung und weiteren Horizont,
empfand er als Qual und Erniedrigung, und das Fehlen jeglicher Aussicht, daß er
seine gesellschaftliche Stellung ändern oder in ihr vorwärtskommen könnte,
hatte aus dem empfindsamen Jüngling einen frühreifen, verbitterten und
schweigsamen Menschen gemacht. Er las viel in seiner Freizeit, aber diese geistige
Nahrung stärkte und erhob ihn nicht, denn alles verlor in ihm Farbe und Leben.
Sein Mißgeschick, Einsamkeit und Leid hatten ihm die Augen geöffnet und seinen
Geist für viele Dinge geschärft, aber auch die schönsten Gedanken und
wertvollsten Erfahrungen konnten ihn nur noch mehr entmutigen und verbittern,
denn sie beleuchteten ihm nur noch schärfer seinen Mißerfolg und sein
aussichtsloses Leben in der Stadt.
Da war schließlich auch Wlado
Maritsch, ein Schlosser von Beruf, ein fröhlicher Bursche und guter Kerl, den
seine Kameraden von den Universitäten gern mochten und sowohl wegen seines
starken und schönen Baritons als auch wegen seiner Offenheit und Ehrlichkeit
gern einluden. Dieser kräftige junge Mann mit seiner Schlossermütze auf dem
Kopfe gehörte zu jenen bescheidenen Menschen, die sich selbst genügen, sich mit
niemand messen und vergleichen, ruhig hinnehmen, was ihnen das Leben bietet,
und ohne viel Wesens davon zu machen, alles geben, was sie besitzen und können.
Da waren auch zwei Lehrerinnen aus
der Stadt, Zorka und Sagorka, beide aus Wischegrad gebürtig. Um ihre Gunst
rissen sich alle diese Jünglinge, und vor ihnen und um sie spielten sie ihr
naives, verworrenes, gleißendes und gequältes Liebesspiel. Vor ihnen wurden
Diskussionen wie die Turniere vor den Damen vergangener Jahrhunderte geführt;
ihretwegen saß man schließlich auf der Kapija und rauchte in Dunkelheit und Einsamkeit
oder sang mit einer Gesellschaft, die bis dahin irgendwo getrunken; um sie gab
es unter den Kameraden geheime Haßgefühle, ungeschickt verborgene Eifersüchte
und offene Streitigkeiten. Gegen zehn Uhr pflegten sie zu gehen. Die jungen
Männer blieben noch lange, aber die Stimmung auf der Kapija sank, die
kämpferische Beredsamkeit ließ nach.
Stikowitsch, der gewöhnlich das
große Wort führte, rauchte und schwieg heute abend. Er war aus dem
Gleichgewicht gebracht und unzufrieden mit sich selbst, aber er verbarg es,
wie er immer alle seine wahren Gefühle verbarg, ohne sie je ganz verheimlichen
zu können. Er hatte heute nachmittag das erste Stelldichein mit der Lehrerin
Zorka, einem interessanten Mäd chen mit fülligen Körperformen, blassem Gesicht
und feurigen Augen, gehabt. Auf Stikowitschs großes Drängen hatte sie
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