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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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gute Gesellschaft werden.«
    »Das ist alles fremde
Bücherweisheit, mein Lieber«, antwortete Stikowitsch, »die vor dem lebendigen
Schwung der erwachten nationalen Kräfte, in erster Linie bei den Serben, dann
aber auch bei den Kroaten und Slowenen, verblaßt, die alle nach dem gleichen
Ziele streben. Die Dinge entwickeln sich nicht nach den Voraussagen der
deutschen Theoretiker, dafür aber verlaufen sie in völliger Übereinstimmung mit
dem tiefen Sinn unserer Geschichte und unserer rassischen Berufung. Seit der
Aufforderung Karageorges, < Ein jeder erschlage seinen Vogt! > werden die sozialen Fragen auf dem Balkan durch nationale Befreiungsbewegungen und -kriege gelöst. Und alles verläuft vollkommen logisch; vom Kleineren zum
Größeren, vom Orts- und Stammesgebundenen zum Nationalen und Staatsgründenden.
Sind etwa die serbischen Siege dieser Jahre, die von Kumanowo und Bregalnitza,
nicht zugleich Siege des fortschrittlichen Gedankens und der sozialen
Gerechtigkeit?«
    »Das wollen wir erst sehen«, fiel
Herak ein.
    »Wer jetzt nicht sieht, der wird es
nie sehen. Wir glauben...«
    »Ihr glaubt, wir aber glauben
nichts, sondern wünschen uns durch wirkliche Beweise und Tatsachen zu
überzeugen«, antwortete Herak.
    »Sind etwa das Verschwinden der
Türken und die Schwächung Österreich-Ungarns, als erster Schritt zu seiner
Vernichtung, nicht in Wahrheit Siege der kleinen, demokratischen Völker und
versklavten Klassen in ihrem Bestreben, ihren Platz an der Sonne einzunehmen?«
setzte Stikowitsch seinen Gedanken fort.
    »Wäre die Verwirklichung der nationalen
Bestrebungen immer gleichbedeutend mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit,
dann würde es in den Staaten Westeuropas, die zum größten Teil ihre nationalen
Ideale verwirklicht haben und in dieser Hinsicht befriedigt sind, keine großen
sozialen Probleme, noch Bewegungen oder Konflikte mehr geben. Aber wir sehen,
daß es nicht so ist, im Gegenteil.«
    »Und ich sage dir wiederum«,
antwortete Stikowitsch etwas müde, »daß ohne die Schaffung selbständiger
Staaten auf der Grundlage nationaler Einheit und neuzeitlicher Auffassungen von
persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit von der < sozialen
Befreiung > keine Rede sein kann. Denn, wie jener Franzose sagte, die Politik
hat den Vorrang ...«
    »Der Magen hat den Vorrang«, fiel
Herak ein.
    Da stimmten die anderen in das
Geschrei ein. Die naive Studentendiskussion verwandelte sich in einen
jungenhaften Streit, in dem alle gleichzeitig sprachen und einander ins Wort
fielen und der beim ersten Witzwort zerplatzte und sich in Gelächter und
Zurufen verlor.
    Für Stikowitsch war dies ein
willkommener Anlaß, den Disput abzubrechen und zu verstummen, ohne daß es nach
Niederlage und Rückzug aussah.
    Nach Zorka und Sagorka, die gegen
zehn Uhr in Begleitung Welimirs und Rankos nach Hause gegangen waren, begannen auch
die übrigen auseinanderzugehen. Schließlich blieben nur Stikowitsch und Nikola
Glasintschanin.
    Die beiden waren Altersgenossen.
Einst waren sie zusammen auf das Gymnasium gegangen und hatten zusammen in Sarajewo
gewohnt. Sie kannten einander bis in die kleinsten Einzelheiten, und gerade
deswegen konnten sie einander nicht richtig beurteilen und wirklich schätzen.
Mit den Jahren wurde natürlich der Abstand zwischen ihnen beiden immer größer
und immer qualvoller. In jeden Ferien trafen sie sich hier in der Stadt und
maßen und betrachteten einander mit untrennbarer Haß-Liebe. Jetzt war auch noch
diese schöne und unruhige Lehrerin Zorka zwischen sie getreten. Denn während
der langen Wintermonate hatte sie sich zu Glasintschanin gehalten, der nicht
verbarg und auch nicht verbergen konnte, wie sehr er in sie verliebt war. Er
hatte sich an diese Liebe mit all jener Glut geklammert, die verbitterte und
unbefriedigte Menschen in diese Dinge hineintragen können. Aber sobald die
Sommermonate kamen und die Studenten auftauchten, konnte dem empfindlichen
Glasintschanin die Aufmerksamkeit nicht entgehen, die die Lehrerin Stikowitsch
schenkte. Daher war jene alte und vor der Welt immer verborgene Spannung
zwischen ihnen beiden in der letzten Zeit noch gewachsen. In diesen Ferien
hatten sie sich noch nicht ein einziges Mal so allein getroffen.
    Jetzt, da sie zufällig so allein
geblieben, war der erste Gedanke beim einen wie beim anderen, möglichst
schnell und ohne Gespräch, das nur unangenehm werden konnte, auseinanderzugehen.
Aber eine unsinnige Rücksicht, die nur die Jugend

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