Ivo Andric
daran, ob Lottika
vielleicht müde sei. Sie war wirklich müde; mehr, als irgend jemand ahnte, und
mehr, als ihr selbst bewußt war.
Die kleine hölzerne Uhr an der Wand
schlägt eins. Lottika erhebt sich schwer und stützt sich mit den Händen im
Kreuz. Sorgfältig löscht sie die große grüne Lampe auf dem Holzgestell, und
mit den kleinen Schritten einer alten Frau, mit denen sie sich nur in ihrem
eigenen Zimmer und so vor dem Schlafen bewegt, begibt sie sich zur Ruhe.
Über der schlafenden Stadt schließt
sich die volle Dunkelheit.
21
Schließlich war auch das Jahr 1914
herangekommen, das letzte Jahr der Chronik von der Drinabrücke. Es war gekommen
wie alle früheren Jahre, im ruhigen Schritt der irdischen Zeitläufe, aber unter
dem dunklen Getöse immer neuer und immer ungewöhnlicherer Ereignisse, die
einander wie Wellen überstürzten.
So viele Jahre Gottes waren über die
Stadt neben der Brücke hinweggegangen und ebenso viele werden über sie noch hinweggehen.
Allerlei Arten von Jahren waren es und werden es noch sein, aber das Jahr 1914
wird immer einzig dastehen. So wenigstens meinen jene, die es überlebt haben.
Ihnen scheint es, als ob man – wieviel darüber auch gesprochen und geschrieben
werden mag – niemals alles wird sagen können und dürfen, was man damals auf dem
Grunde der menschlichen Geschichte, hinter dem Zeitgeschehen erschaut hatte.
Wer vermöchte – so denken sie! – jene kollektiven Zuckungen auszudrücken und zu
vermitteln, von denen plötzlich die Massen erschüttert wurden und die von den
lebenden Wesen auch auf die toten Gegenstände, auf Landschaften und Gebäude
übergingen? Wie sollte man jenes Wogen in den Menschen beschreiben, das von
stummer, tierischer Angst bis zu selbstmörderischer Begeisterung, von den
niedrigsten Trieben der Blutgier und des hinterhältigen Raubes bis zu den
höchsten Taten des Märtyrertums reichte, in denen der Mensch über sich selbst
hinauswuchs und für einen Augenblick die Sphären höherer Welten berührte, in
denen andere Gesetze walten? Niemals wird das ausgedrückt werden können, denn
wer es anschaute und überlebte, der verstummt für immer, und die Toten können
ohnehin nicht sprechen. Das sind Dinge, die man nicht ausspricht, sondern
vergißt. Denn vergäße
man sie nicht, wie könnten sie sich dann wiederholen?
In jenem Sommer des Jahres 1914, als
die Herren über die Geschicke der Menschen die Völker Europas vom Spielplatz
des allgemeinen Wahlrechtes in die schon früher vorbereitete Arena der
allgemeinen Wehrpflicht führten, bot die Stadt ein kleines, aber sprechendes
Bild der ersten Symptome einer Erkrankung, die mit der Zeit Europa und dann die
ganze Welt befallen sollte. Es war die Zeit an der Grenze zweier Epochen der
menschlichen Geschichte. Nur sah man viel deutlicher den Abschluß jener Epoche,
die hier endete, als man den Beginn der neuen erkannte, die sich erst
eröffnete. Damals suchte man für Gewalttätigkeit noch eine Rechtfertigung und
fand für Greueltaten irgendeinen Namen, den man aus der geistigen Schatzkammer
des vergangenen Jahrhunderts entlehnte. Alles, was geschah, hatte noch das
Aussehen scheinbarer Würde und den Reiz des Erstmaligen, jenen unheimlichen,
kurzen und unaussprechlichen Reiz, der später so spurlos verschwand, daß ihn
auch diejenigen, die ihn damals so lebhaft empfanden, nicht mehr in der
Erinnerung wachrufen können.
Aber dies sind Dinge, die wir nur am
Rande erwähnen und die die Dichter und Wissenschafter künftiger Epochen mit Mitteln
und in Formen, die wir nicht ahnen, und mit einer Klarheit, Freiheit und
geistigen Kühnheit, die weit über der unsrigen liegen, untersuchen, deuten und
wiederaufleben lassen werden. Sie werden wahrscheinlich auch für dieses
sonderbare Jahr eine Erklärung zu finden wissen und ihm seinen Platz in der Geschichte
der Welt und der Menschheitsentwicklung zu bestimmen vermögen. Hier für uns
ist es einzig und vor allem das Jahr, in dem sich das Schicksal der Brücke über
die Drina erfüllte.
Der Sommer 1914 wird in der
Erinnerung jener, die ihn hier verlebten, als der strahlendste und schönste
Sommer seit Menschengedenken bleiben, denn in ihrem Bewußtsein glänzt und
leuchtet er auf einem ganzen gewaltigen und düsteren Horizont des Todes und
Unglücks, der sich bis in das Unabsehbare erstreckt.
Und dieser Sommer begann in der Tat
gut, besser als so viele frühere. Die Pflaumenbäume hatten, wie seit langem
nicht, Frucht angesetzt, und das Getreide
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