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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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längeren Schweigen von
zwei Monaten kam wieder eine Karte. Er schrieb aus einem Hochgebirgsort in den
Alpen. »In einer Höhe von zweitausend Metern, umgeben von Menschen aller Zungen
und Nationalitäten, betrachte ich die Unendlichkeit der Aussichten und denke
an Dich und den vergangenen Sommer.« Das war auch für ihre Jahre und ihre
geringe Erfahrung ausreichend. Hätte dort gestanden: »Weder habe ich Dich je
geliebt noch liebe ich Dich oder werde Dich jemals lieben«, es hätte für sie
weder klarer noch schmerzlicher sein können. Denn letzten Endes handelte es
sich um Liebe und nicht um ferne Erinnerungen oder darum, aus welcher Höhe
über dem Meeresspiegel man schreibt, welche Menschen man um sich hat und mit
welchen Zungen diese sprachen. Aber Liebe war nicht dabei.
    Ohne Vater und Mutter, war Zorka hier
im Hause ihrer Verwandten als Waisenkind aufgewachsen. Als sie das Lehrerseminar
in Sarajewo beendet hatte, erhielt sie eine Anstellung in Wischegrad und kehrte
in das gleiche Haus wohlhabender, aber einfacher Menschen zurück, mit denen sie
nichts verband.
    Zorka wurde blaß und magerte ab, sie
zog sich in sich selbst zurück, aber sie vertraute sich niemandem an und
antwortete auch nicht auf Stikowitschs Weihnachtsgruß, der ebenso kurz und kalt
wie stilistisch makellos war. Sie wollte mit ihrer Schuld und Schande allein
fertig werden, aber schwach, niedergeschlagen und unerfahren, wie sie war,
verwirrte sich in ihr immer mehr das unentwirrbare Netz ihrer wirklichen
Erlebnisse und ihrer tiefen Sehnsucht, ihrer Gedanken und seines unverständlich
unmenschlichen Verhaltens. Hätte sie irgend jemand fragen oder von irgendwem
Rat holen können, es wäre ihr zweifellos leichter gewesen, aber die Scham
verbot es ihr. Auch so schien es ihr oft, als wüßte die ganze Stadt um ihre
Enttäuschung und als träfen sie schadenfrohe und spöttische Blicke, wenn sie
durch die Stadt ging. Nirgends eine Erklärung, weder bei den Menschen noch in
den Büchern. Und selbst vermochte sie nichts zu erklären. Wenn er sie wirklich
nicht liebte, wozu dann die ganze Komödie leidenschaftlicher Worte und
Versicherungen während der letzten Ferien. Wozu dann die Szene auf den
Schulbänken, die nur mit Liebe zu rechtfertigen und zu verteidigen war, ohne
sie aber in den Schlamm einer unerträglichen Erniedrigung fiel? Konnte es
Menschen geben, die sich und andere so wenig achteten, daß sie sich leichthin
auf ein solches Spiel einließen? Was treibt sie, wenn es nicht die Liebe ist?
Was waren dann seine feurigen Blicke, sein heißer, stoßweise gehender Atem und
seine wilden Küsse? Was war das alles, wenn es keine Liebe war? Und Liebe war
es nicht! Das sah sie besser und klarer, als ihr lieb war. Aber damit wiederum
konnte sie sich nicht für die Dauer und wahrhaft zufriedengeben. (Wer hätte
sich wohl je damit zufriedengegeben?) Das natürliche Ende aller dieser inneren
Quälereien war der Gedanke an den Tod, der letztlich am Ende all unserer Träume
von Glück lauert. Sterben, dachte Zorka, sich dort von der Kapija in den Fluß
stürzen, wie zufällig, ohne Brief und Abschied, ohne Eingeständnis und Erniedrigung.
Sterben! dachte sie in der letzten Sekunde vor dem Einschlafen und im ersten
Glanz des Erwachens, mitten in der lebhaftesten Unterhaltung und unter der
Maske eines jeden Lächelns. Alles in ihr sprach und wiederholte immer dieses
gleiche – Sterben! Sterben! –, aber man stirbt nicht, sondern man lebt mit
diesem unerträglichen Gedanken in sich.
    Die Erleichterung kam von einer
Seite, von der sie sie am wenigsten zu erhoffen gewagt hatte. Etwa um die Zeit
der Weihnachtsferien hatte ihre versteckte Qual den Höhepunkt erreicht. Solche
Gedanken und solche Fragen ohne Antwort untergraben einen Menschen und schaden
mehr denn Krankheit. Alle hatten an ihr die bösen Veränderungen bemerkt, alle
machten sich Sorgen um sie und rieten ihr, zum Arzt zu gehen, die Verwandten,
ihr Rektor, ein heiterer Mann mit vielen Kindern, und ihre Freundinnen.
    Der glückliche Zufall wollte, daß
gerade damals die Proben für das Fest kamen und daß sie, nach vielen Monaten,
das erste mal wieder mit Glasintschanin sprach. So lange war er jeder Begegnung
und jedem Gespräch mit ihr ausgewichen. Aber die Wärme, die gewöhnlich bei
diesen naiven, aber ehrlichen Theater- und Musikaufführungen in kleinen Orten
herrscht, dann die hellen und kalten Nächte, in denen sie nach Hause gingen, alles
das bewirkte, daß sich diese beiden jungen und

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