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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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deutlicher ein,
daß es hier keine Möglichkeit für ein anständiges Leben gibt. Lange noch wird
es hier weder Frieden noch Ordnung oder nützliche Arbeit geben. Weder die
Stikowitsch noch die Herak werden sie schaffen. Im Gegenteil, es wird immer
schlimmer werden. Man muß von hier flüchten wie aus einem einstürzenden Hause.
Diese zahlreichen und verworrenen Retter, die auf Schritt und Tritt
auftauchen, sind das beste Zeichen, daß wir einer Katastrophe entgegengehen.
Wenn man schon nicht helfen kann, dann soll man sich wenigstens retten.«
    Das Mädchen schwieg.
    »Ich habe dir noch nie etwas davon
gesagt, aber ich habe oft und viel nachgedacht und auch etwas unternommen. Du
weißt, daß Bogdan Djurowitsch, mein Freund vom Okolischte, bereits das dritte
Jahr in Amerika ist. Schon seit dem vorigen Jahre schreiben wir uns. Ich habe
dir auch sein Bild gezeigt, das er mir geschickt hat. Er ruft mich zu sich und
verspricht mir sichere Arbeit und guten Verdienst. Ich weiß, daß es weder
leicht noch einfach ist, das auszuführen, aber ich glaube, daß es nicht unmöglich
ist. Ich habe über alles nachgedacht und alles berechnet. Ich würde verkaufen,
was ich auf dem Okolischte habe. Wenn du einverstanden bist, würden wir
möglichst schnell heiraten und, ohne irgend jemandem ein Wort zu sagen, nach
Zagreb abreisen. Dort würden wir einen, zwei Monate warten, bis mir Bogdan das < Affidavit > schickt. In der Zeit würden wir Englisch lernen. Sollten wir
dort wegen meiner Militärpflicht keinen Erfolg haben, dann würden wir nach
Serbien gehen und von dort reisen. Alles würde ich so ordnen, daß es für dich
möglichst leicht wäre. Und dort, in Amerika, würden wir beide arbeiten.
Drüben haben wir unsere Schulen, die Lehrerinnen brauchen. Auch ich würde
Arbeit finden, denn drüben sind alle Berufe allen offen und zugänglich. Wir
wären frei und glücklich. Alles würde ich tun, wenn du nur willst ..., wenn du
einverstanden bist.«
    Hier brach der junge Mann ab. Statt
einer Antwort legte sie beide Hände auf seine. Er empfand darin einen Ausdruck
großer Dankbarkeit. Aber ihre Antwort war weder Ja noch Nein. Sie
dankte ihm für soviel Fürsorge und Aufmerksamkeit und für seine unendliche
Güte, und im Namen dieser gleichen Güte bat sie nur um einen Monat Zeit, ehe
sie die endgültige Antwort geben würde: bis zum Ende des Schuljahres.
    »Ich danke dir, Nikola, ich danke
dir! Du bist so gut«, flüsterte sie und drückte seine Hände.
    Unten von der Kapija schallte zu
ihnen der Gesang junger Burschen herauf. Das waren die Wischegrader Jungen,
vielleicht auch schon die Schüler aus Sarajewo. In etwa vierzehn Tagen würden
die Studenten von der Universität eintreffen. Bis dahin konnten sie keinerlei
Entscheidung treffen. Alles schmerzte sie, am meisten aber die Güte dieses
Menschen, dennoch hätte sie in diesem Augenblick nicht ja sagen können,
auch wenn man sie in Stücke zerschnitten hätte. Sie hoffte auf nichts, aber sie
wollte den Menschen noch einmal sehen, »der niemand lieben kann«. Noch einmal,
und dann mochte kommen, was da wolle. Nikola würde warten, das wußte sie.
    Sie erhoben sich und, einander an
den Händen haltend, begannen sie langsam den steilen Weg zur Brücke
hinunterzusteigen, von der das Lied heraufschallte.

22
    Am Sankt-Veits-Tage veranstalteten die serbischen
Vereine, wie in jedem Jahre, eine Kirmes auf dem Mesalin. Am Zusammenfluß der
Drina und des Rsaw wurden auf dem grünen hohen Ufer unter den dichten Nußbäumen
Zelte aufgeschlagen, in denen man Getränke ausschenkte und vor denen Hammel an
Spießen über leichtem Feuer gedreht wurden. Im Schatten saßen die Familien,
die ihr Essen mitgebracht hatten. Unter einem Dach aus grünen Zweigen spielte
schon laut schmetternd die Musik. Auf der festgestampften Fläche wurde bereits
seit dem Vormittag Kolo getanzt. Es tanzten nur die Jüngsten und Müßigsten,
jene, die sofort nach dem Gottesdienst aus der Kirche geradeswegs zum Mesalin
gegangen waren. Die eigentliche, allgemeine Kirmes sollte erst am Nachmittag
beginnen. Aber der Kolotanz war schon lebhaft und feurig, schöner und
lebhafter, als er es später sein würde, wenn alles herausströmen und auch
verheiratete Frauen, lustige Witwer und kleine Kinder beginnen würden, sich
daran zu beteiligen, und alles zu einem langen, aber verbindungslosen und
ungeordneten Geflecht wurde. Dieser kurze Kolo, in dem mehr Jungen als Mädchen
tanzten, war in Gang gekommen und bewegte sich wie eine

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