Ivo Andric
entzweiten Menschen näherkamen.
Sie trieb das Bedürfnis, sich ihre Qual zu erleichtern, und ihn die Liebe, die,
wenn sie so aufrichtig und tief ist wie die seine, leicht verzeiht und vergißt.
Die ersten Worte waren natürlich
kalt, trotzig, zweideutig und die ersten Gespräche lange, ausweglose
Erklärungen. Aber auch das brachte dem Mädchen Erleichterung. Zum ersten Male
konnte sie jetzt mit einem lebenden Menschen über ihre innere, verschämte Not
sprechen, ohne sie bis in die kleinsten und schmerzlichsten Einzelheiten
eingestehen zu müssen. Glasintschanin sprach mit ihr lang und lebhaft darüber,
aber vorsichtig und mit Wärme, ihren Stolz schonend. Auch über Stikowitsch
äußerte er sich nicht schärfer, als unvermeidlich war. Seine Erklärung war so,
wie wir sie in jener Nacht auf der Kapija gehört haben. Kurz, sicher und
schonungslos. Stikowitsch sei ein geborener Egoist und ein Ungeheuer von einem
Menschen, der niemand lieben könne und der, solange er lebe, selbst gequält und
unzufrieden, alle quälen werde, die sich von ihm täuschen ließen und sich ihm
näherten. Über seine eigene Liebe sprach Glasintschanin nicht viel, aber sie
drang aus jedem Wort, jedem Blick und jeder Bewegung. Das Mädchen hörte ihn meist
schweigend an. Alles behagte ihr an diesen Gesprächen. Nach jeder solchen Unterhaltung
fühlte sie, wie es sich in ihr aufheiterte und beruhigte. Zum ersten Male nach
so vielen Monaten hatte sie Stunden der Ruhe vor den inneren Stürmen, und zum
ersten Male gelang es ihr, sich nicht als ein unwürdiges Geschöpf anzusehen.
Denn die Worte des jungen Mannes, voller Liebe und Achtung, zeigten ihr, daß
sie nicht unwiederbringlich verloren und ihre Verzweiflung nichts anderes denn
eine Täuschung war, wie auch der Liebestraum vom verflossenen Sommer eine
Täuschung gewesen war. Sie lenkten sie ab von jener düsteren Welt, in die sie
schon begonnen hatte, sich zu verlieren, und brachten sie in die lebendige
menschliche Wirklichkeit zurück, in der es für alles oder fast alles Heilung
und Hilfe gab.
Die Gespräche gingen auch nach dem
Fest des heiligen Sawa weiter. Der Winter verging und nach ihm auch das
Frühjahr. Täglich sahen sie sich. Mit der Zeit sammelte sich das Mädchen, wurde
stärker, gesundete und verwandelte sich, schnell und natürlich, wie es nur die
Jugend kann. So war auch dieser fruchtbare und unruhige Sommer gekommen. Die
Leute hatten sich schon daran gewöhnt, Zorka und Glasintschanin als zwei Menschen
anzusehen, die »einander gut sind«.
Glasintschanins lange Reden, die sie
während des Winters aufmerksam angehört und wie eine Medizin getrunken hatte,
waren ihr jetzt allerdings weniger unterhaltsam. Manchmal empfand sie dieses
Bedürfnis zu gegenseitigem Sichanvertrauen und Beichten als eine Last. Mit
Furcht und Verwunderung fragte sie sich, woher diese Vertraulichkeit zwischen
ihnen käme, aber dann erinnerte sie sich wieder, daß er im Winter »ihre Seele
gerettet« habe, und, ihren Überdruß überwindend, hörte sie ihn, wie ein guter
Schuldner, immer wieder so aufmerksam, wie sie konnte, an.
In dieser Sommernacht hielt er seine
Hand auf der ihrigen. (Das war die äußerste Grenze seiner keuschen Kühnheit.)
Durch diese Berührung drang der warme Reichtum dieser Nacht auch in ihn. In
solchen Augenblicken war es ihm völlig klar, wieviel Werte in dieser Frau
verborgen waren, und gleichzeitig fühlte er, wie sich die Bitterkeit und die
Unzufriedenheit seines Lebens in fruchtbare Kräfte verwandelten, die
ausreichten, um zwei Menschen bis zum fernsten Ziel zu geleiten, wenn sie nur
die Liebe verband und stützte.
Erfüllt von solchen Gefühlen, war
auch er in dieser Dunkelheit nicht mehr der alltägliche Glasintschanin, der
kleine Angestellte des großen Unternehmens in Wischegrad, sondern ein anderer
Mensch, sicher und stark, der sein Leben frei und weitsichtig gestaltete. Denn
einem Menschen, den eine wahre, große und selbstlose Liebe erfüllt, mag sie
auch noch so einseitig sein, eröffnen sich Horizonte und zeigen sich
Möglichkeiten und Wege, die so vielen begabten, ehrgeizigen und egoistischen
Menschen unbekannt und für immer verschlossen bleiben.
Er sprach mit dem Mädchen, das neben
ihm saß.
»Ich glaube, ich täusche mich nicht.
Wenn schon aus keinem anderen Grunde, so deswegen, weil ich dich nicht betrügen
könnte. Während die einen reden und schreien und die anderen Geschäfte treiben
und erwerben, verfolge und beobachte ich alles und sehe immer
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