Ivo Andric
hingeworfene Perlenschnur.
Alles um sie war in Bewegung, alles wogte im Rhythmus der Musik: die Luft, die
dichten Kronen der Bäume, die weißen Sommerwolken, das schnelle, klare Wasser
der beiden Flüsse. Die Erde bewegte sich unter ihnen und um sie herum, und sie
bemühten sich nur, die Bewegungen ihrer Körper der allgemeinen Bewegung
anzupassen. Schon vom Wege her eilten die jungen Burschen heran, um im Kolo
mitzutanzen, die Mädchen zierten sich noch etwas und standen eine Weile, dem
Tanz zuschauend, als zählten sie die Takte und warteten auf irgendein geheimes
Echo in sich, um dann plötzlich in den Kolo hineinzuspringen, mit leicht
gebeugten Knien und gesenktem Kopf, als stürzten sie sich begehrlich in kaltes
Wasser. Ein starker Strom drang aus der sommerlichen Erde in die tanzenden Füße
und verbreitete sich durch die Kette heißer Hände; an dieser Kette zitterte der
Kolo wie ein einheitliches Lebewesen, erhitzt vom gleichen Blut und getragen
vom gleichen Rhythmus. Die jungen Burschen tanzten mit zurückgeworfenen Köpfen,
bleich, mit zitternden Nasenflügeln, die Mädchen mit geröteten Wangen,
schamhaft gesenkten Augen, aus Furcht, durch ihren Blick die Freude zu zeigen,
mit der sie der Tanz erfüllte.
In diesem Augenblick, da die Kirmes
eben erst begonnen hatte, tauchten am Ende des Mesalin Gendarmen auf. Im
Lichte des Mittags standen sie schwarz in ihren dunklen Tuchuniformen, nur
ihre Waffen und Knöpfe glänzten. Es waren mehr als gewöhnlich in einer Streife,
wenn sie Jahrmärkte und Kirmessen abging. Sie schritten geradeswegs zum Laubdach
mit der Musik. Unharmonisch verstummte ein Instrument nach dem anderen. Der
Kolo schwankte und blieb stehen. Man hörte verärgerte Männerstimmen. Alle
hielten sich noch bei den Händen. Einige waren so hingerissen und voller
Rhythmus, daß sie im Takt auf der Stelle stampften und darauf warteten, daß die
Musikanten weiterspielten. Aber die Musiker standen schnell auf und wickelten
ihre Trompeten und Geigen in ihr Wachstuch. Die Gendarmen gingen weiter zu den
Zelten und den verstreuten Familien auf dem Rasen. Überall sprach der
Wachtmeister sein Wort, ruhig und scharf, und wie durch eine Zauberformel erlosch
überall sofort jeglicher Frohsinn, hörte der Tanz auf und brach die
Unterhaltung ab. Und jeder, dem er sich näherte, gab seine bisher eingenommene
Stellung auf, ließ alles liegen und trachtete nur danach, möglichst schnell
alles zusammenzuraffen, was sein war, und fortzugehen. Als letztes löste sich
der Kolo der jungen Burschen und Mädchen auf. Ihnen stand der Sinn nicht
danach, den Tanz auf der Wiese aufzugeben, und es wollte ihnen ganz und gar
nicht in den Kopf, daß Frohsinn und Tanz zu Ende sein sollten. Aber vor dem
bleichen Gesicht und dem blutunterlaufenen Blick des Gendarmeriewachtmeisters
wichen auch die Hartnäckigsten zurück.
Enttäuscht und noch in Ungewißheit
kehrten die Menschen vom Mesalin auf der weißen, breiten Landstraße zurück, und
je weiter sie in die Stadt hineinkamen, desto mehr stießen sie auf ein
unbestimmtes und verängstigtes Flüstern über das Attentat, das an diesem Morgen
in Sarajewo verübt worden, über die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand
und seiner Gemahlin, über Serbenverfolgungen, die man überall erwartete. Vor
dem Amtsgebäude trafen sie die ersten gefesselten Menschen, darunter auch den
jungen Popen Milan; Gendarmen brachten sie in das Gefängnis.
So verwandelte sich die zweite
Hälfte dieses Sommertages, der feierlich und fröhlich sein sollte, in
Verwirrung, Verbitterung und angstvolles Abwarten.
Auf der Kapija herrschte statt der
feiertäglichen Stimmung und Lebhaftigkeit müßiger Menschen tödliche Stille.
Dort stand bereits eine Wache. Ein Soldat in neuer Montur schritt langsam vom
Sofa bis zu jener Stelle, wo der eiserne Deckel den Eingang in den minierten
Pfeiler verdeckte, und wiederholte unermüdlich diese fünf, sechs Schritte, und
sooft er kehrt machte, blitzte sein Bajonett in der Sonne wie ein Signal. Schon
am nächsten Tage klebte an der Mauer, unter der Tafel mit der türkischen Inschrift,
eine weiße, amtliche Bekanntmachung, in fetten Buchstaben gedruckt und
eingerahmt von einem breiten schwarzen Rand. In ihr wurde dem Volke die
Nachricht vom Attentat bekanntgegeben, das in Sarajewo am Thronfolger verübt
worden war, und die Empörung über diese Untat zum Ausdruck gebracht. Aber
niemand der Vorüberkommenden blieb vor der Bekanntmachung stehen und las sie,
sondern alle
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