Ivo Andric
Glasintschanin.
Das Zerwürfnis, zu dem es zwischen
ihnen beiden im vergangenen Jahre, als Stikowitsch während der Schulferien
auftauchte, gekommen war, dauerte bis zum Anfang des neuen Jahres. Dann hatten
im Serbischen Heim, wie in jedem Winter, die Vorbereitungen für das Fest des
heiligen Sawa, des Schutzheiligen der Schulen, mit Konzert und einem
Theaterstück begonnen. An den Vorbereitungen hatten sich auch Zorka und
Glasintschanin beteiligt und auf dem Heimwege von diesen Proben zum ersten
Male seit dem vorigen Sommer wieder miteinander gesprochen. Anfangs waren diese
Gespräche kurz, zurückhaltend und trotzig gewesen. Aber sie hatten nicht
aufgehört, sich zu treffen und miteinander lange Gespräche zu führen – denn
junge Menschen lieben auch den bittersten und hoffnungslosen Liebesstreit mehr
denn Einsamkeit und Langeweile ohne Liebesspiel und -gedanken. Irgendwann im
Verlaufe dieser endlosen Streite hatten sie sich versöhnt, ohne selbst zu
merken, wann und wie. Jetzt, in diesen warmen Sommernächten, trafen sie sich
schon regelmäßig. Manchmal noch tauchte zwischen ihnen das Bild des abwesenden
Stikowitsch auf und entflammte von neuem den ganzen Streit ohne Ende, aber es
trennte und entfernte sie nicht mehr voneinander, während jede Versöhnung sie
einander näherbrachte.
Nun saßen sie in der warmen
Dunkelheit auf einem alten, umgestürzten Nußbaum, hingen jedes seinen Gedanken
nach und blickten auf die großen und kleinen Lichter unten in der Stadt am
Fluß, der gleichmäßig rauschte. Glasintschanin, der lange gesprochen hatte, war
für einen Augenblick verstummt. Auch Zorka, die den ganzen Abend geschwiegen
hatte, schwieg, wie nur Frauen zu schweigen verstehen, wenn sie ihren Liebessorgen
nachhängen, die für sie wichtiger und näher als alles im Leben sind.
Im vergangenen Jahre, als
Stikowitsch auftauchte, da hatte sie geglaubt, es eröffne sich vor ihr der
unabsehbare Himmel eines Liebesglücks, in dem völlige Verwandtschaft der
Empfindungen und völliger Einklang der Wünsche und Gedanken die Süße eines
Kusses und die Dauer eines Menschenalters haben; aber diese Illusion dauerte
nicht lange. So unerfahren und berauscht sie war, konnte ihr nicht entgehen,
daß dieser Mensch schnell entflammte, aber ebenso schnell erkaltete, und das
nach irgendwelchen, ihm eigenen Gesetzen, ohne jegliche Rücksicht auf sie und
ohne jede Beziehung zu dem, was sie als größer und wichtiger als sich und ihn
ansah. Fast ohne Abschied war er abgereist. Sie blieb in schweren Zweifeln, an
denen sie wie an einer heimlichen Wunde litt. Der Brief, der von ihm eintraf,
war vollendet gereimt, ein kleines Muster literarischer Kunstfertigkeit, aber
abgewogen wie die Meinung eines Advokaten und klar und durchsichtig wie ein
leeres Glasgefäß. In ihm war von ihrer Liebe die Rede, aber so, als lägen sie
bereits seit hundert Jahren als berühmte Tote in ihren Gräbern. Auf ihren
lebhaften und gefühlswarmen Brief, den sie ihm als Antwort schickte, war eine
Karte gekommen. »In den Arbeiten und Sorgen, die an mir zerren und auf mir
lasten, denke ich an Dich wie an die ruhige Wischegrader Nacht voller Rauschen
des Flusses und erfüllt vom Duft unsichtbarer Wiesen.« Und das war alles. Vergebens
versuchte sie, sich zu erinnern, wann sie dieses Rauschen des Flusses gehört
und den Duft unsichtbarer Wiesen gespürt habe. Das gab es nur auf seiner Karte.
Sie erinnerte sich jedenfalls dessen nicht, so wie er sich anscheinend alles
übrigen nicht erinnerte, was zwischen ihnen gewesen. Ihr Bewußtsein verdüsterte
sich bei dem Gedanken, daB sie sich getäuscht habe und getäuscht worden sei,
dann aber tröstete sie sich wiederum mit etwas, von dem sie selbst nicht wußte,
was es war, und das unwahrscheinlicher schien denn ein Wunder. »Er ist
unfaßbar«, sagte sie sich, »fremd und kalt, selbstsüchtig, launisch und
berechnend, aber vielleicht sind alle außergewöhnlichen Männer so.« Auf jeden
Fall glich dies eher einem Leid denn einer Liebe. Je mehr sie grübelte und sich
in diesen Gedanken verlor, desto mehr spürte sie, daß die ganze Last der Liebe,
die er hervorgerufen, auf ihr lag, während er sich irgendwo im Nebel und in der
Ferne verlor, die sie nicht mit ihrem wahren Namen zu nennen wagte. Denn eine
liebende Frau liebt, auch wenn sie völlig enttäuscht wurde, ihre Liebe, als sei
sie ein Kind, das ihr vom Schicksal nicht bestimmt wurde. Sie bezwang ihr Herz
und antwortete nicht auf diese Karte. Aber nach einem
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