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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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gingen an ihr und der Wache gesenkten Hauptes und so schnell sie
konnten vorüber.
    Von diesem Tage an blieb eine Wache
auf der Brücke. Auch das ganze Leben der Stadt war mit einem Schlage unterbrochen
und aufgehalten, wie jener Kolo auf dem Mesalin und jener ganze Sommertag im
Juli, der eigentlich feierlich und fröhlich hätte sein sollen.
    Unter stummem, angespanntem Lesen
der Zeitungen vergingen bedrückende Tage voll Flüstern, Trotz und Angst, Verhaftungen
von Serben und verdächtigen Reisenden und beschleunigter Verstärkung der
militärischen Maßnahmen an der Grenze. Die Sommernächte vergingen, aber ohne
Gesang, ohne Zusammenkünfte der jungen Burschen auf der Kapija, ohne Flüstern
der Paare im Dunkeln. In der Stadt sah man am meisten Militär. Und wenn um neun
Uhr abends die Trompeten in den Baracken auf dem Bikawatz und in der großen
Kaserne neben der Brücke die traurige Melodie des österreichischen Zapfenstreiches
bliesen, dann verödeten die Straßen fast vollkommen. Es waren böse Zeiten für
die, die sich liebten, sich sehen und miteinander ungesehen sprechen wollten.
Jeden Abend ging Glasintschanin an Zorkas Haus vorüber. Sie stand am offenen
Fenster im hohen Erdgeschoß. Dort unterhielten sie sich, aber kurz, denn er
eilte, noch vor der völligen Dunkelheit über die Brücke zu kommen und auf den
Okolischte zurückzukehren.
    So war er auch an diesem Abend
gekommen. Bleich, mit dem Hut in der Hand, bat er das Mädchen, zum Tor zu
kommen, denn er müsse ihr etwas ganz leise sagen. Zögernd ging sie hinaus. Auf
der Torschwelle stehend, war sie gleich groß mit dem jungen Menschen, der
aufgeregt mit kaum hörbarem Flüstern sprach.
    »Wir haben beschlossen zu fliehen.
Heute abend, Wlado Maritsch und noch zwei. Ich glaube, daß alles gesichert ist
und daß wir durchkommen werden. Wenn es aber nicht sein sollte... wenn etwas
passieren sollte. Zorka!«
    Das Flüstern des jungen Menschen
brach ab. In ihren weit geöffneten Augen sah er Angst und Verlegenheit. Auch er
war verlegen, als reue es ihn, daß er es ihr überhaupt gesagt hatte und
gekommen war, sich zu verabschieden.
    »Ich habe gedacht, es wäre besser,
daß ich es dir sage!«
    »Danke! Es wird also nichts mit
unserer ... nichts mit Amerika!«
    »Nein, so ist es doch nicht. Hättest
du ja gesagt, als ich dir vor einem Monat vorschlug, es sofort zu tun, dann
wären wir vielleicht heute fern von hier. Aber vielleicht ist es besser so. Du
siehst ja jetzt, wie es steht. Ich muß mit den Kameraden. Der Krieg ist da, und
unser aller Platz ist jetzt in Serbien. Wir müssen, Zorka, wir müssen, denn das
ist Pflicht. Und wenn ich lebend wiederkomme und wenn wir frei werden, dann
werden wir vielleicht nicht in jenes Amerika über das Meer gehen müssen, denn
wir werden hier unser Amerika haben, ein Land, in dem man viel und ehrlich
arbeitet und gut und frei lebt. Da wird auch für uns beide Platz sein, wenn du
willst. Von dir wird es abhängen. Ich werde ... an dich denken, und du ...
manchmal...«
    Hier hob der junge Mann, dem die
Worte fehlten, plötzlich die Hand und strich schnell über ihr reiches braunes
Haar. Das war schon immer sein größter Wunsch gewesen, und jetzt war es ihm,
wie einem Verurteilten, gestattet, ihn zu verwirklichen. Erschreckt wich das
Mädchen zurück, und er blieb stehen, die Hand in der Luft. Das Tor schloß sich
unhörbar, und schon im nächsten Augenblick erschien Zorka, bleich, mit weit
aufgerissenen Augen und ineinandergekrampften Händen am Fenster. Der junge
Mensch ging unmittelbar unter dem Fenster vorüber, hob den Kopf höher und
zeigte ein lächelndes, sorgloses, fast schönes Gesicht. Als fürchtete sie sich
zu sehen, was weiter geschah, zog sich das Mädchen in das Zimmer zurück, in
dem es bereits dunkel war. Dort setzte sie sich auf die Polsterbank, senkte den
Kopf und begann zu weinen.
    Sie weinte anfangs still vor sich
hin, dann, unter dem Gefühl einer schweren allgemeinen Ausweglosigkeit, immer
stärker. Und je mehr sie weinte, desto mehr fand sie Grund zum Weinen und
desto hoffnungsloser schien alles um sie herum. Nirgends ein Ausweg oder eine
Lösung; niemals würde sie diesen guten und grundanständigen Nikola, der nun
fortging, ganz von Herzen und, wie er es verdiente, lieben können; niemals
würde sie es erleben, daß jener andere, der niemand lieben konnte, sie liebte;
niemals würden die schönen und frohen Tage wiederkehren, die noch im vorigen
Jahre über der Stadt leuchteten; nie würde es

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