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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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einem der unseren gelingen, sich
aus diesem Kreise finsterer Berge zu retten noch jenes Amerika zu sehen oder
hier ein Land zu schaffen, in dem man, wie alle sagten, viel arbeiten, aber
gut und frei leben würde. Niemals!
    Am nächsten Morgen erfuhr man, daß
Wlado Maritsch, Glasintschanin und noch einige junge Leute nach Serbien
geflüchtet waren. Alle übrigen Serben blieben mit ihren Familien und allem,
was sie hatten, in diesem Hexenkessel wie in einer Falle. Mit jedem Tag
verdichtete sich fühlbar über der Stadt die Atmosphäre von Gefahr und Drohung.
Und dann brach, an einem der letzten Julitage, hier an der Grenze jenes
Ungewitter los, das sich mit der Zeit auf die ganze Welt ausbreiten und so vielen
Ländern und Städten, und damit auch dieser Brücke über die Drina, zum
Verhängnis werden sollte.
    Die richtige Hetze gegen die Serben
und alle, die mit ihnen in Verbindung standen, begann erst jetzt. Die Menschen
zerfielen in Verfolgte und Verfolger. Jenes hungrige Tier, das im Menschen
lebt und sich nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der guten Sitten und
der Gesetze entfernt werden, war jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben,
die Dämme weggeräumt. Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und
Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, daß
sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte
Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt
wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen Augen lebte, der konnte sehen,
wie sich eine ganze Gesellschaft in einem Tage verwandelte. Verschwunden war
in wenigen Augenblicken diese Stadt, die auf einer jahrhundertealten Tradition
aufgebaut war, wenn es auch in ihr immer heimliche Haßgefühle,
Eifersüchteleien, religiöse Unduldsamkeiten, gewisse, von der Gewohnheit
geheiligte Grobheiten und Grausamkeiten, aber daneben auch Menschlichkeit und
das Gefühl für Ordnung und Maß gegeben hatte, Gefühle, die alle diese bösen
Triebe und rohen Gewohnheiten in erträglichen Grenzen gehalten, sie letzten
Endes versöhnt und den allgemeinen Interessen des gemeinsamen Lebens untergeordnet
hatten. Männer, die vierzig Jahre lang in der Stadt das Wort geführt hatten,
verschwanden über Nacht, als wären sie alle plötzlich, zugleich mit den
Gewohnheiten, Auffassungen und Einrichtungen, die sie verkörperten, verstorben.
    Schon am Tage nach der
Kriegserklärung gegen Serbien begann eine Kompanie des Schutzkorps durch die
Stadt zu streifen. Diese Kompanie, die man in aller Eile bewaffnet hatte und
die die Behörden bei der Verfolgung der Serben unterstützen sollte, bestand aus
Trunkenbolden und anderen Arbeitsscheuen, größtenteils aus Menschen, die schon
seit langem mit der guten Gesellschaft auf Kriegsfuß lebten und mit dem Gesetz
in Konflikt standen. Ein gewisser Huso Kokoschar, ein Zigeuner ohne Ehre und
festen Beruf, dem die Lustseuche schon in frühester Jugend die Nase abgefressen
hatte, führte das zerlumpte Häuflein an, das mit alten Gewehren, System
Werndl, und langen Bajonetten bewaffnet war, und hatte in der Stadt das große
Wort.
    Angesichts dieser Drohung ging
Kaufherr Pawle Rankowitsch als Vorsitzender der serbischen Kirchen- und
Schulgemeinde mit noch vier angesehenen Gemeindemitgliedern zum Bezirksamtmann
Sabljak. Das war ein dicker und bleicher, völlig kahler Mann; er stammte aus
Kroatien und war erst seit kurzem auf diesem Posten in Wischegrad. Jetzt war er
aufgeregt und unausgeschlafen; seine Augenlider waren gerötet und die Lippen
blutleer und trocken. Er trug Stiefel und im Knopfloch seiner grünen
Lodenjacke ein Abzeichen in zwei Farben: Schwarz und Gelb. Er empfing sie
stehend, ohne sie aufzufordern, Platz zu nehmen. Kaufherr Pawle, mit gelbem
Gesicht, aus dem die Augen wie aus zwei schwarzen, schrägen Schlitzen
hervorstachen, sprach mit heiserer, fremder Stimme.
    »Herr Amtmann, Sie sehen, was im
Gange ist und was sich vorbereitet, und Sie wissen, daß wir serbischen
Wischegrader Bürger das nie gewünscht haben.«
    »Nichts weiß ich«, unterbrach ihn
sofort mit bissiger Stimme der Amtmann. »Und ich will auch nichts wissen. Ich
habe jetzt anderes, Wichtigeres zu tun, als mir Reden anzuhören. Das ist alles,
was ich Ihnen zu sagen habe.«
    »Herr Amtmann«, begann Kaufherr
Pawle wieder ruhig, als wollte er mit seiner Ruhe auch diesen bissigen und
aufgeregten Menschen besänftigen, »wir sind gekommen, um Ihnen unsere

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