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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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ohne zu achten, wo er ging, und ohne den Blick
von dem gefesselten Mann zu lassen. Und mit jedem Schritt schien es ihm, als
wachse er, als beginne er erst jetzt zu leben.
    Am Ufer flammten neue Kienspäne auf
und gaben neues Licht. Der gefangene Bauer wurde in eine der Arbeiterhütten
hineingetragen, in der ein Feuer brannte, und mit Stricken und Ketten, die man
vom Herd genommen hatte, an einen Balken gefesselt.
    Dies war niemand anders als Radisaw
aus Unischte.
    Plewljak hatte sich etwas beruhigt,
er schrie nicht, noch fluchte er, aber er konnte nirgends ruhig stehen bleiben.
Er schickte Sejmen das Ufer hinab, um den anderen Bauern zu suchen, der ins
Wasser gesprungen war, obgleich es klar war, daß ihn, wenn er schon nicht
ertrunken war, niemand in einer so dunklen Nacht finden und noch weniger fassen
würde. Er gab noch alle möglichen anderen Befehle, ging hinein, kam wieder
heraus, machte wieder kehrt, trunken vor Erregung. Er begann, den gefesselten
Bauern auszufragen, aber auch das gab er wieder auf. Überhaupt alles, was er
tat, sollte nur seine Unruhe stillen und verdecken, denn in der Tat dachte er
nur an eines: er wartete auf Abidaga. Und er brauchte nicht lange zu warten.
    Nach seiner Gewohnheit erwachte
Abidaga gegen Mitternacht, als sein erster Schlaf vorüber war, und da er nicht
wieder einschlafen konnte, stand er am Fenster und blickte in die Dunkelheit
hinaus. Von seinem Blockhaus auf dem Bikawatz sah man am Tage das Flußtal und
den ganzen Bau mit seinen Hütten, Mühlen, Schuppen und den ganzen mit Material
übersäten Raum um ihn. Jetzt, in der Dunkelheit, erahnte er das alles nur und
dachte mit Erbitterung, wie langsam und schwer die Arbeit voranginge und wie
das eines Tages auch dem Wesir zu Ohren kommen müsse. Einer würde schon dafür
sorgen. Wenn niemand anders, dann dieser glatte, kalte und hinterhältige Tosun
Effendi. Und dann konnte es geschehen, daß er beim Wesir in Ungnade fiele. Und
gerade das läßt ihn nicht schlafen, und wenn er einschläft, dann zittert er
noch in seinen Träumen davor. Das Essen vergiftet es ihm, die Menschen sind ihm
zu wider, das Leben ist ihm verhaßt, wenn er nur daran denkt. Ungnade, das
heißt, daß man fern vom Wesir ist, daß einem die Feinde ins Gesicht lachen (oh!
nur das nicht!), daß man nichts und niemand ist, daß man zum Lumpengesindel
gehört, nicht nur in den Augen anderer, nein, auch in den eigenen Augen. Das
heißt, daß man seinen schwer erworbenen Besitz verliert, oder, wenn man ihn
schon behält, daß man ihn verstohlen verzehren muß, fern von Stambul, irgendwo
in der Verbannung, in finsterer Provinz, vergessen, überflüssig, lächerlich,
in Not. Nein, nur das nicht! Dann wäre es besser, die Sonne nicht mehr zu
schauen, die Luft nicht zu atmen. Hundertmal besser wäre es dann, nichts zu
sein und nichts zu besitzen! – Diese Gedanken kommen ihm immer wieder und drängen
ihm häufig das Blut zum Kopf, daß es schmerzvoll in den Schläfen schlägt, aber
auch so hören sie nie ganz auf, sondern ruhen wie ein schwarzer Bodensatz in
ihm. Das alles würde für ihn die Ungnade bedeuten, und die Ungnade ist möglich
an jedem Tag, zu jeder Stunde, denn alles arbeitet daran, daß sie komme, er
allein arbeitet dagegen und verteidigt sich; nur er allein gegen alle und
alles. Und das geht schon fünfzehn Jahre so, seit er zu Ansehen und Einfluß
gelangt ist, seit ihm der Wesir große und wichtige Arbeiten anvertraut. Wer
kann das aushalten? Wer dabei schlafen und ruhig bleiben? –
    Obgleich die Herbstnacht kalt und
feucht war, öffnete Abidaga das Fenster und schaute in das Dunkel, denn es war
ihm, als ersticke er im geschlossenen Raum. Da bemerkte er, daß sich auf dem
Gerüst und am Ufer Lichter bewegten. Als er sah, daß es mehr wurden, fiel ihm
ein, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein müsse. Er zog sich an und weckte
den Diener. So traf er vor dem erleuchteten Schuppen gerade in dem Augenblick
ein, da Plewljak nicht mehr wußte, worauf er schimpfen, wem er befehlen,
überhaupt was er noch tun sollte, um die Zeit zu verkürzen.
    Die unerwartete Ankunft Abidagas
verwirrte ihn vollends. So sehr hatte er diese Stunde herbeigewünscht, und nun,
da sie gekommen, brachte er es nicht fertig, sie so zu nützen, wie er es sich
erträumt hatte. Er stotterte vor Aufregung und vergaß den gefesselten Bauern.
Abidaga sah nur verächtlich über sei nen Kopf hinweg und wandte sich sofort zu
dem Gefangenen. In dem Schuppen entfachten sie ein helles

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