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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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mögliche Art
hatten sie es sich vorgestellt, nur nicht so, wie es sich abspielte, mit diesem
kleinen, aber scharfen und bösartigen Offizier, dem der Krieg zum wahren Leben
geworden, der, ohne an sich zu denken und auf andere Rücksicht zu nehmen, alle
Menschen und Länder um sich nur als Gegenstand oder Mittel zu Kampf und Krieg
ansah und der sich benahm, als führe er den Krieg in seinem Namen und auf seine
Rechnung.
    So standen sie und blickten einander
unschlüssig an. Ihre Blikke schienen stumm zu fragen: »Sind wir am Leben
geblieben, und ist wirklich das Schlimmste vorüber?«, »Was erwartet uns noch,
und was sollen wir tun?«
    Der Mulasim und Pope Nikola fanden
sich als erste. Sie beschlossen, daß die »Würdenträger« ihre Pflicht erfüllt
hätten und daß ihnen nun nichts anderes zu tun bleibe, als nach Hause zu gehen
und auf das Volk einzuwirken, daß es sich nicht fürchte und fliehe, aber gut
achtgebe, was es tue. Die anderen, bleich im Gesicht und ohne Gedanken im
Kopfe, nahmen diesen Beschluß auf, wie sie auch jeden anderen aufgenommen
hätten, denn sie waren nicht imstande, selbst irgend etwas zu beschließen.
    Der Mulasim, den nichts aus seiner
Ruhe bringen konnte, ging weiter seinem Amt nach. Der Polizist rollte den
bunten, langen Teppich zusammen, dem es nicht bestimmt gewesen, den Kommandanten
aufzunehmen, neben ihm stand Salko Hedo, kalt und unempfindlich wie das
Schicksal. Die »Würdenträger« waren inzwischen auseinandergegangen, jeder auf
seine Art und in seine Richtung. Der Rabbiner eilte mit kleinen Schritten, um
möglichst schnell daheim zu sein und die Wärme und den Schutz des heimischen
Raumes zu fühlen, in dem seine Mutter und seine Frau lebten. Der Muderis ging
etwas langsamer, aber tief in Gedanken versunken. Nun, da alles unerwartet
leicht und gut, wenn auch ziemlich grob und unangenehm, vorübergegangen war,
schien es ihm völlig klar, daß auch kein Grund zur Furcht vorhanden gewesen,
und ihm war, als habe er sich in Wahrheit auch niemals vor irgend etwas
gefürchtet. Er dachte nur nach, welche Bedeutung dieses Erlebnis in seiner
Chronik haben könnte und wieviel Platz es in ihr einnehmen müßte. Zwanzig
Zeilen würden etwa genügen. Vielleicht auch nur fünfzehn, vielleicht gar noch
weniger. Und je mehr er sich seinem Hause näherte, desto geringer wurde diese
Zahl. Mit jeder eingesparten Zeile schien es ihm in seinen eigenen Augen, als
werde alles um ihn geringer und bedeutungsloser, während er, der Muderis, immer
wichtiger werde und wachse.
    Mullah Ibrahim und Pope Nikola
gingen gemeinsam bis zum Fuße des Mejdan. Beide schwiegen, überrascht und vor
den Kopf geschlagen durch das Aussehen und Auftreten des Kaiserlichen Obersten.
Beide eilten, möglichst schnell zu ihren Glaubensgenossen zu kommen. Dort, wo
sich ihre Wege trennten, blieben sie einen Augenblick stehen und sahen einander
schweigend an. Mullah Ibrahim rollte mit den Augen und zuckte mit den Lippen,
als kaue er ständig das gleiche Wort, das er nicht aussprechen konnte. Pope
Nikola, der sein Lächeln voll goldener Funken wiedergefunden, mit dem er sich
und den Hodscha ermunterte, sprach seinen eigenen und des Hodschas Gedanken
aus:
    »Böse Sache, diese Armee, Mullah Ibrahim!«
    »Rrrecht hhhast du, bbböse«,
stotterte Mullah Ibrahim, die Hände erhebend, und verabschiedete sich mit
Kopfbewegung und Gesichtsausdruck.
    Schwer und langsam schritt Pope
Nikola zu seinem Hause neben der Kirche. Die Pfarrfrau empfing ihn, ohne etwas
zu fragen. Sofort streifte er die Stiefel ab, zog den Mantel aus und nahm die
Priestermütze von dem dichten, verschwitzten Gewirr roter und grauer Haare. Er
setzte sich in den kleinen, ebenerdigen Erker. Auf der hölzernen Einfassung
stand schon das Glas Wasser mit einem Stückchen Zucker. Nachdem er sich
erfrischt und eine Zigarette angezündet hatte, schloß er ermüdet die Augen.
Aber vor seinem inneren Blick zuckte noch immer der flinke Oberst wie ein
Blitz, der den Menschen blendet und ihm das ganze Blickfeld ausfüllt, so daß er
nur ihn sieht und dennoch sein Bild nicht erfassen kann. Ausatmend stieß der
Pope den Rauch weit von sich und sprach leise zu sich selbst:
    »Ein abscheulicher Kerl, hol's der
Teufel!«
    Aus der Stadt hörte man eine Trommel
und dann die Trompete der Jägerabteilung, durchdringend und siegreich, mit
einer neuen, ungewohnten Melodie.

11
    So vollzog sich die große Umwandlung im Leben des Städtchens
neben der Brücke, ohne andere Opfer als

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