Ivo Andric
Alihodschas Mißgeschick. Schon nach
einigen Tagen war das Leben wieder im vollen Gange und, wie es schien, im Wesen
unverändert. Auch Alihodscha erholte sich und machte, wie auch die übrigen Kaufleute,
wieder seinen Laden in der Nähe der Brücke auf, nur trug er von nun an seinen
weißen Hodschaturban auf der rechten Seite etwas tiefer, damit man die Narbe an
seinem verletzten Ohr nicht sehe. Jene »bleischwere Kanonenkugel«, die sich ihm
mitten in seine Brust gesenkt hatte, als er das rote Kreuz auf dem Arm des
österreichischen Soldaten und durch seine Tränen die »Worte des Kaisers« las,
war zwar nicht verschwunden, sie war aber klein wie eine Kugel am Gebetkranz
geworden, und so ließ sich mit ihr leben. Auch war er ja nicht der einzige, den
sie drückte.
So begann die neue Zeit unter der
Besatzung, die vom Volke, da es sie nicht verhindern konnte, als etwas
Vorübergehendes angesehen wurde. Was kam nicht alles in diesen wenigen ersten
Jahren nach der Besatzung über die Brücke! Gelb gestrichene Heeresfahrzeuge
rasselten in langen Reihen über die Brücke und brachten Verpflegung,
Bekleidung, Mobiliar und bis dahin nie gesehene Einrichtungen und Gegenstände.
In der ersten Zeit sah man nur
Soldaten. Wie Wasser aus der Erde, quollen sie hinter jeder Ecke und jedem
Strauch hervor. Der Markt war voll von ihnen, aber sie waren auch in allen anderen
Teilen der Stadt. Jeden Augenblick kreischte irgendeine erschreckte Frau auf,
wenn sie im Hof oder im Pflaumengarten hinter dem Haus unerwartet auf Soldaten
gestoßen war. In ihren dunkelblauen Uniformen, gebräunt von den zweimonatigen
Märschen und Gefechten, froh, daß sie lebten, erfüllt vom Wunsche nach Erholung
und Erleben, wimmelten sie in Stadt und Umgebung herum. Auf der Brücke waren
sie zu jeder Tageszeit. Von den Bürgern ging kaum einer auf die Kapija, denn
sie steckte immer voller Soldaten. Da saßen sie, sangen in verschiedenen
Sprachen, scherzten, kauften Obst in ihren blauen Mützen mit dem ledernen
Schirm und einer Kokarde aus gelbem Blech,in die die Initialen des Kaisers,
FJI 17 ,
eingeschnitten waren.
Aber mit dem Herbst begannen die
Soldaten abzurücken. Nach und nach wurden es unmerklich weniger und weniger. Es
blieben nur Gendarmerieabteilungen. Sie nahmen Wohnungen und richteten alles
für einen ständigen Aufenthalt ein. Gleichzeitig begannen Beamte einzutreffen,
große und kleine Beamte mit Familien und Dienerschaft, nach ihnen Meister und
Handwerker für die Arbeiten und Berufe, die es bis dahin bei uns nicht gegeben.
Es kamen Tschechen, Polen, Kroaten, Ungarn und Deutsche.
Im Anfang schien es, als kämen sie
zufällig, wie vom Winde herangeweht, und nur zu vorübergehendem Aufenthalt, um
unter uns mehr oder weniger das Leben zu leben, das man hier seit je lebte,
als müßten die zivilen Behörden noch für einige Zeit die Besetzung fortführen,
die das Heer begonnen. Mit jedem Monat, der verging, wurde indessen die Zahl
der Fremden immer größer. Was aber das Volk in der Stadt am meisten überrascht
und mit Staunen und Mißtrauen erfüllt, das ist nicht so sehr ihre Anzahl, als
vielmehr ihre unverständlichen und undurchsichtigen Pläne, ihr unermüdlicher
Arbeitseifer und die Ausdauer, mit der sie darangehen, diese Pläne auszuführen.
Diese Fremden ruhen nicht und lassen auch niemanden in Ruhe; sie scheinen
entschlossen zu sein, mit ihrem unsichtbaren, aber immer stärker fühlbaren Netz
von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften das Leben selbst mit seinen
Menschen, Tieren und toten Gegenständen zu erfassen und alles um sich herum zu
ändern und zu verrücken; das äußere Bild der Stadt, die Gewohnheiten und die
Natur der Menschen von der Wiege bis zum Grabe. Aber dies alles verrichten sie
ruhig und ohne viele Worte, ohne Gewalt und Herausforderung, so daß man nichts
hat, dem man sich widersetzen könnte. Stoßen sie auf Nichtverstehen oder
Widerstand, dann halten sie sofort ein, besprechen sich irgendwo unsichtbar,
ändern die Richtung ihrer Arbeiten und führen doch aus, was sie sich
vorgenommen. Jedes Werk, das sie beginnen, erscheint harmlos, ja sogar sinnlos.
Sie vermessen irgendein Brachland, kennzeichnen Holz im Wald, besichtigen die
Aborte und Abflußkanäle; schauen Pferden und Kühen ins Maul, prüfen Maße und
Gewichte, fragen nach Krankheiten im Volke, nach Zahl und Namen der Obstbäume,
nach den Schaf- und Geflügelrassen. – Es sieht aus, als spielten sie. So
unverständlich, unwirklich und unernst erscheinen
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