Ivo Andric
Bewunderung und ein
schlechtes Gewissen mischen. Die ältesten und besten Türken aus der Stadt
gehen oft nach Crntscha wie nach einem Wallfahrtsort, um Schemsibeg zu besuchen
und mit ihm zu sprechen. Dort sind die Zusammenkünfte jener, die, entschlossen,
in ihrem Trotz bis zum Ende zu verharren, nicht gewillt sind, sich um irgendeinen
Preis und in irgend etwas vor der Wirklichkeit zu beugen. Es sind lange
Sitzungen ohne viele Worte und ohne wirkliche Beschlüsse.
Schemsibeg sitzt rauchend auf dem
roten Sitzteppich, sommers wie winters eingehüllt und zugeknöpft, und die Gäste
um ihn herum. Das Gespräch dreht sich gewöhnlich um irgendeine neue, unverständliche
und verhaßte Maßnahme der Besatzung oder um die Türken, die sich immer mehr der
neuen Ordnung der Dinge anpassen. Alle empfinden die Notwendigkeit, vor diesem
hartnäckigen und würdigen Manne ihre Erbitterung, Besorgnisse und Zweifel
auszubreiten. Und jedes Gespräch endet mit den Fragen, wohin das wohl führt und
wo es ein Ende haben werde. Wer sind und was sind diese Fremden, die, so
scheint es, weder Ruhe noch Atempause noch Maß und Grenze kennen? Und was
wollen sie eigentlich? Mit was für Plänen sind sie gekommen, warum haben sie
soviel Bedürfnisse, als ob eines aus dem anderen wüchse, und wozu das alles?
Welche Unruhe treibt und drängt sie wie ein Fluch zu unaufhörlich neuen Arbeiten
und Unternehmungen, deren Ende nicht abzusehen ist?
Schemsibeg aber betrachtet sie nur
und schweigt meist. Sein Gesicht ist dunkel, aber nicht von der Sonne gebräunt,
sondern von innen heraus. Sein Blick ist hart, aber wie abwesend und verloren.
Die Augen sind getrübt, und um die dunklen Augäpfel liegt ein weißgrauer
Kreis, wie bei einem alten Adler. Der große Mund ohne sichtbare Lippen, fest
zusammengekniffen, bewegt sich langsam, als wälze er stets das gleiche Wort,
ohne es auszusprechen.
Dennoch gehen die Leute mit einem
Gefühl der Erleichterung von ihm weg, zwar weder getröstet noch beruhigt, aber
doch gerührt und getragen von seinem Beispiel fester und aussichtsloser
Unnachgiebigkeit.
Und wenn Schemsibeg am nächsten
Freitag in die Stadt kommt, dann erwartet ihn wieder eine Veränderung an
Menschen oder Gebäuden, die am vorigen Freitag noch nicht da war. Damit er sie
nicht sehen muß, senkt er die Augen zu Boden, aber dort, im festgetrockneten
Straßenschlamm, sieht er die Spuren von Pferdehufen und bemerkt, wie neben den
türkischen, runden und vollen Hufplatten immer häufiger die gebogenen schwäbischen
Hufeisen mit ihren scharfen Zacken an den Enden auftauchen. So liest sein
Blick auch hier im Straßenschlamm das gleiche und unbarmherzige Urteil, das er
überall auf den Gesichtern und Dingen um sich sieht, das Urteil einer Zeit,
die sich nicht aufhalten läßt.
Als er sah, daß auch seine Blicke
dem Neuen nicht mehr ausweichen konnten, gab Schemsibeg es auf, überhaupt noch
in die Stadt zu kommen. Er zog sich völlig auf seine Crntscha zurück, und dort
saß er als schweigsamer, aber strenger und unerbittlicher Herrscher, allen zur
Last, am meisten aber sich selbst. Auch weiterhin besuchten ihn, als lebendes
Heiligtum, die älteren und angeseheneren Türken aus der Stadt. (Unter ihnen besonders
Alihodscha Mutewelitsch.) Im dritten Jahr der Besatzung aber starb Schemsibeg
ohne Krankheit. Er starb an diesem Gram, ohne jenes bittere Wort, das er
ständig in seinem alten Mund wälzte, jemals ausgesprochen und noch einmal den
Fuß in die Stadt gesetzt zu haben, in der alles neue Wege ging.
Und in der Tat, die Stadt ändert jäh
ihr Gesicht, denn die Fremden fällen Bäume, pflanzen neue an anderer Stelle
ein, bessern die Wege aus, legen neue an, heben Kanäle aus und errichten
öffentliche Gebäude. Schon in den ersten paar Jahren wurden die verstreuten
Läden am Markt abgerissen, die bis dahin eigentlich niemanden gestört hatten.
An Stelle dieser alten Läden mit hölzernem Vorbau wurden neue, festgemauerte
mit Ziegel- oder Blechdächern und eisernen Rolläden an den Türen gebaut. (Als
Opfer dieser Maßnahmen sollte auch Alihodschas Laden abgerissen werden, aber
der Hodscha wehrte sich entschlossen, prozessierte und zog die Sache auf alle
mögliche Art in die Länge, bis es ihm gelang, seinen Laden zu erhalten, wie
er war und wo er war.) Der Markt wurde erweitert und eingeebnet. Errichtet
wurde ein neues Amtsgebäude, ein großes Haus, in welches das Gericht und die
Kreisverwaltung einziehen sollten. Auch das Militär arbeitete auf
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