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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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alle ihre Geschäfte in den
Augen des Volkes. – Und dann versinkt das alles, was sie mit soviel Sorgfalt
und Eifer ausführten, irgendwo, als sei es für immer sang- und klanglos
verschwunden. Aber einige Monate, oft ein ganzes Jahr danach, wenn das Volk es
schon längst vergessen, dann tritt mit einem Male der Sinn dieser auf den
ersten Blick sinnlosen und längst vergessenen Maßnahme zu Tage: die Ältesten
der einzelnen Stadtviertel werden auf das Rathaus bestellt, und es wird ihnen
die neue Verfügung über den Holzschlag, über die Typhusbekämpfung, über den
Verkauf von Obst und Süßigkeiten oder über Viehpässe bekanntgegeben. So gibt es
jeden Tag neue Verordnungen. Und mit jeder Verordnung wird der einzelne
irgendwo begrenzt oder verpflichtet, während sich das gemeinsame Leben der
Stadt oder des Dorfes und aller seiner Einwohner ausweitet, verflicht und
verzweigt.
    In den Häusern aber, und nicht nur
in den mohammedanischen, sondern auch in den christlichen, änderte sich
nichts. Dort lebte, arbeitete und vergnügte man sich weiter nach alter Art, Brot
wurde im Backtrog angerührt, Kaffee im Herd geröstet, Wäsche im Zuber gekocht
und in der »Lauge« gewaschen, die den Frauen die Finger zerfraß und wundrieb;
gewebt und gestickt wurde auf Webstuhl und Stickrahmen. Die alten Bräuche der
Festlichkeiten, Feiertage und Hochzeiten wurden voll beibehalten, von den
neuen Bräuchen, die die Fremden mitgebracht hatten, wurde nur hie und dort
geflüstert, wie von etwas Unwahrscheinlichem und Fernem. Kurzum, man arbeitete
und lebte wie seit alters her und wie man in den meisten Häusern auch noch
fünfzehn, zwanzig Jahre nach der Besetzung arbeiten und leben würde.
    Dafür aber änderte sich das äußere
Bild der Stadt sichtlich und schnell. Die gleichen Menschen, die in ihren
Häusern in allem die alte Ordnung beibehielten und nicht daran dachten, sie zu
ändern, beruhigten sich im wesentlichen leicht mit diesen Veränderungen in der
Stadt und nahmen sie nach längerem oder kürzerem Wundern und Murren hin.
Natürlich bedeutete auch hier das neue Leben, wie überall und immer unter
solchen Verhältnissen, in Wahrheit eine Mischung aus Altem und Neuem. Die
alten Auffassungen und Werte stießen sich mit den neuen, vermischten sich oder
lebten nebeneinander her, als warteten sie, wer wen überleben werde. Die
Menschen rechneten nach Gulden und Kreuzern, aber ebenso nach Groschen und
Para, sie maßen nach Arschin, nach Okka und Dram, aber auch nach Metern, Kilogramm
und Gramm, sie legten die Termine für Zahlungen und Lieferungen nach dem neuen
Kalender fest, noch häufiger aber nach alten Gewohnheiten, auf den Georgitag
oder zu Michaelis. Wie einem Naturgesetz folgend, stemmte sich das Volk gegen
alles Neue, aber es ging darin nicht bis zum Ende, denn den meisten war das
Leben wichtiger und teurer als die Form, in der sie lebten. Nur bei
vereinzelten Ausnahmen spielte sich der Kampf zwischen Altem und Neuem als ein
tieferes und wahrhaftes Drama ab. Für sie war die Lebensform untrennbar und
unbedingt mit dem Leben selbst verbunden.
    Ein solcher Mensch war Schemsibeg
Brankowitsch aus Crntscha, einer der wohlhabendsten und angesehensten Begs in
der Stadt. Er hatte sechs Söhne, von denen vier bereits verheiratet waren. Ihre
Häuser bildeten eine ganze kleine Siedlung, umgeben von Äckern, Pflaumengärten
und Hainen. Schemsibeg war der unbestrittene, schweigsame und strenge
Herrscher dieser großen Gemeinschaft. Groß, von den Jahren gebeugt, den
gewaltigen weißen, mit Gold durchflochtenen Turban auf dem Haupte, geht er nur
des Freitags zur Stadt hinunter, um in der Moschee das gemeinsame Gebet zu
verrichten. Seit dem ersten Tage der Besatzung macht er nirgends in der Stadt
halt, spricht mit niemandem und blickt nicht um sich. In das Haus der
Brankowitsch darf kein einziges Stückchen neuer Tracht oder Schuhwerks, noch
neues Handwerkszeug oder ein neues Wort hinein. Keinen einzigen seiner Söhne
läßt er irgendeine Arbeit ergreifen, die mit der neuen Obrigkeit verbunden ist,
die Enkel schickt er nicht zur Schule. Davon leidet ihre ganze Gemeinschaft
Schaden; unter den Söhnen herrscht Unzufriedenheit über die Starrköpfigkeit
des Alten, aber niemand wagt oder versucht, sich auch nur mit einem Wort oder
Blick aufzulehnen. Die Türken aus der Stadt, die mit den neuen Leuten arbeiten
und sich mit ihnen vermischen, grüßen Schemsibeg, wenn er durch die Stadt
kommt, mit stummer Hochachtung, in die sich Furcht,

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