Ivo Andric
eigene Rechnung
noch schneller und rücksichtsloser als die Zivilbehörden. Es baute Baracken
auf, legte Wege und Pflanzungen an und veränderte das Aussehen ganzer Hügel.
Die alten Städter finden sich nicht
mehr zurecht und staunen. Und gerade wenn sie glauben, daß das Ende dieses
unverständlichen Eifers gekommen sei, beginnen die Fremden irgendeine neue
noch unverständlichere Arbeit. Die Städter bleiben stehen und betrachten diese
Arbeiten, aber nicht, wie Kinder gern den Arbeiten der Erwachsenen zuschauen,
sondern umgekehrt, wie Erwachsene einen Augenblick vor kindlichem Zeitvertreib
verweilen. Denn dieses ständige Bedürfnis der Fremden, zu bauen und
abzureißen, zu graben und zu mauern, aufzurichten und umzugestalten, ihr
kunstvolles Streben, die Wirkung der Naturkräfte vorauszusehen, um ihnen zu
entgehen oder zu steuern, versteht und schätzt hier niemand. Im Gegenteil, alle
Städter und besonders die älteren Leute, sehen darin eine ungesunde Erscheinung
und ein böses Zeichen. Wäre es nach ihnen gegangen, dann hätte die Stadt
ausgesehen wie alle orientalischen Städte. Was zerbrochen, das hätte man
geflickt, was sich neigt, abgestützt, aber als Vorbeugung und darüber hinaus
hätte sich niemand ohne Not und planmäßig Arbeit gemacht, an die Fundamente
der Gebäude gerührt und das gottgegebene Aussehen der Stadt verändert.
Aber die Fremden führten auch
weiterhin ihre Arbeiten aus, eine nach der anderen, schnell, konsequent, nach
unbekannten und wohlvorbereiteten Plänen, zur immer größeren Überraschung und
Verwunderung der Städter. So kam, völlig unerwartet für unser Volk, auch die
Reihe an das verfallene und verlassene Karawan-Serail, das auch in seinem
jetzigen Zustand noch immer, wie vor dreihundert Jahren, ein Ganzes mit der
Brücke bildete. Was man den Steinernen Chan nannte, war allerdings schon seit
langem eine völlige Ruine. Die Türen waren vermorscht, jene spitzenartigen
Gitter aus weichem Stein vor den Fenstern zerbrochen, das Dach war in das
Innere des Gebäudes gestürzt, und aus ihm wuchsen eine große Akazie und ein
Wust namenlosen Gestrüpps und Unkrauts, aber die äußeren Wände waren noch immer
ganz und bildeten ein gerades, aufrecht ste hendes harmonisches Rechteck aus
weißem Stein. In den Augen aller Städter, von der Geburt bis zum Tode, war dies
keine gewöhnliche Ruine, sondern der Abschluß der Brücke, ein Bestandteil der
Stadt, wie ihr eigenes Haus, und niemals hätte jemand auch nur im Traum daran
gedacht, daß man den alten Chan anrühren könne und an ihm etwas ändern müsse,
was die Zeit und die Natur nicht selbst beseitigt hätten. Aber eines Tages kam
auch er an die Reihe. Zunächst maßen die Ingenieure lange an der Ruine herum,
dann kamen Arbeiter und Taglöhner und begannen Stein um Stein abzubauen und
alle möglichen Vögel und kleines Getier, das sich dort eingenistet,
aufzuscheuchen und zu vertreiben. Schnell war die Fläche oberhalb des Marktes
neben der Brücke kahl und leer und aus dem Chan ein Haufen guter, säuberlich
aufgeschichteter Steine geworden. Binnen wenig mehr denn Jahresfrist war an
Stelle des einstigen Karawan-Serail eine große, plumpe, einstöckige Kaserne
errichtet, blaßblau gekalkt, mit grauem Blech abgedeckt und mit Schießscharten
an den Ecken. Auf dem erweiterten Plateau exerzierten den ganzen Tag die Soldaten,
die zum gewaltigen Geschrei eines Unteroffiziers mühselig ihre Glieder
streckten und wie Unglückliche mit dem Gesicht in den Staub sanken. Am Abend
aber erschallten aus den zahlreichen Fenstern dieses häßlichen Gebäudes die
Klänge unverständlicher Soldatenlieder mit Mundharmonikabegleitung, bis der
durchdringende Ton der Trompete mit ihrer traurigen Zapfenstreichmelodie, bei
der alle Hunde in der Stadt wie besessen zu heulen anfingen, diese Geräusche
verstummen ließ und das letzte Licht in den Fenstern löschte. So verschwand die
schöne Stiftung des Wesirs, und so begann die Kaserne, die das Volk, seinen Gewohnheiten
getreu, den Steinernen Chan nannte, ihr Leben auf dem Plateau neben der Brücke,
in völligem Mißklang zu allem, was sie umgab.
Die Brücke war jetzt völlig
abgesondert und allein übrig geblieben.
Auch im Leben auf der Brücke stießen
die vererbten und unveränderlichen Gewohnheiten der Einheimischen mit den Neuerungen
zusammen, die die Fremden und ihre Ordnung gebracht hatten, und in diesen
Zusammenstößen war in der Regel das Alte und Einheimische zum Nachgeben und zur
Anpassung
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