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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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einem Greis, die Augen hielt er gesenkt. So ging er jetzt
hier mit dem Schritt eines Nachtwandlers vorüber. Er bemerkte nicht, daß sich
irgend etwas auf der Kapija oder in der Welt geändert hatte, und wurde kaum von
den Menschen beachtet, die hierher kamen, um zu sitzen, zu träumen, zu singen,
zu handeln, zu plaudern oder nichts zu tun. Die Alten hatten ihn vergessen, die
Jugend erinnerte sich seiner nicht, die Fremden kannten ihn nicht. Dennoch war
sein Schicksal eng mit der Kapija verbunden, wollte man zumindest nach dem
urteilen, was man noch vor einigen zehn, zwölf Jahren in der Stadt über ihn
gesprochen und geflüstert hatte.
    Milans Vater, Nikola Glasintschanin,
war irgendwann zur Zeit, als der Aufstand in Serbien auf seinem Höhepunkt war,
in die Stadt zugezogen. Er hatte sich einen schönen Besitz auf dem Okolischte
gekauft. Ständig hielt sich die Meinung, er sei von irgendwoher mit vielem,
aber nicht gerade auf friedliche Weise erworbenem Geld geflohen. Niemand hatte
Beweise dafür, und jeder glaubte es nur zur Hälfte. Aber niemand wies es auch
ganz zurück. Zweimal hatte er sich verheiratet, aber es stellte sich kein
Kindersegen ein. Nur einen Sohn, Milan, hatte er großgezogen und ihm alles,
was er besaß, hinterlassen. öffentliches und Verstecktes. Auch Milan hatte nur
einen Sohn, Petar. Der Besitz wäre diesem zugefallen und auf ihn übergegangen,
hätte Milan nicht eine, eine einzige, aber übermächtige Leidenschaft besessen –
das Spiel.
    Der echte Kleinstädter ist von Natur
kein Spieler. Wie wir gesehen haben, sind seine Leidenschaften anders geartet:
unmäßige Liebe zu den Frauen und der Hang zum Trinken, Singen, Stromern oder
zum müßigen Träumen am heimatlichen Fluß. Die Fähigkeit des Menschen ist in
allem, also auch darin, begrenzt. Daher streiten die Leidenschaften in ihm,
verdrängen einander und schließen einander häufig aus. Das bedeutet nicht, daß
es in der Stadt keine Menschen gab, die nicht auch diesem Laster ergeben waren,
aber die Zahl der Spieler war tatsächlich, mit anderen Städten verglichen,
ziemlich gering, und zumeist waren es Fremde oder Zugewanderte. Milan
Glasintschanin war jedenfalls einer von ihnen. Seit frühester Jugend hatte er
sich völlig dem Spiel ergeben. Fand er in der Stadt nicht die Gesellschaft,
die er zum Spiel brauchte, dann ging er sogar über Land in einen anderen
Gerichtsbezirk, von wo er entweder die Taschen voll Geld, wie ein Kaufmann vom
Markt, oder mit leerem Beutel, ohne Uhr und Kette, oder Tabaksdose und Ringe,
in jedem Falle aber bleich und unausgeschlafen, als sei er krank, zurückkehrte.
    Sein regelmäßiger Platz war sonst
Ustamujitschs Chan, unten am Wischegrader Markt. Dort gibt es ein enges
Zimmerchen ohne Fenster, in dem auch tagsüber eine Lampe brennt und in dem sich
immer drei, vier Mann zusammenfinden, denen das Spiel über alles geht. Dort
sitzen sie häufig, eingeschlossen in Tabaksrauch und abgestandener Luft, mit
blutunterlaufenen Augen, trockenem Munde und zitternden Händen, Tag und Nacht
beisammen und frönen wie Märtyrer ihrer Leidenschaft. In diesem Zimmerchen
verbrachte Milan einen guten Teil seiner Jugend und ließ einen guten Teil
seiner Kraft und seiner Habe zurück.
    Er war nicht viel älter als dreißig
Jahre, als sich in ihm eine plötzliche und für die meisten unerklärliche
Veränderung vollzog, die ihn für immer von seiner schweren Leidenschaft
heilte, gleichzeitig aber sein Leben änderte und ihn zu einem anderen Menschen
machte.
    Eines Herbstes, es mag etwa vierzehn
Jahre her sein, kam ein Fremder in den Chan. Weder alt noch jung, weder häßlich
noch schön, in mittleren Jahren und von mittlerer Gestalt, schweigsam, und nur
mit den Augen lächelnd. Ein Geschäftsmann, der ganz auf die Sache eingestellt
ist, wegen der er gekommen. Er übernachtete hier, und in der Dämmerung stieß er
auch auf dieses Zimmerchen, in dem die Spieler schon seit dem Nachmittag
saßen. Sie nahmen ihn voller Mißtrauen auf, er aber verhielt sich so ruhig und
bescheiden, daß sie es nicht einmal bemerkten, wie auch er anfing, ziemlich
kleine Beträge auf die Karten zu setzen. Er verlor mehr, als er gewann, machte
ein finsteres Gesicht, ärgerte sich und zog mit unsicherer Hand Silbergeld aus
den inneren Taschen. Nachdem er ziemlich viel verloren hatte, mußten sie auch
ihn die Karten austeilen lassen. Anfangs gab er langsam und vorsichtig, dann
aber immer lebhafter und freier. Er spielte ohne Erregung, aber kühn und bis

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