Ivo Andric
Leute finden sich schnell mit der Sauberkeit ab, auch wenn sie
nicht ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen entspricht, vorausgesetzt natürlich,
daß sie sie nicht selbst halten müssen.
Noch eine Neuerung hatten die
Besatzungszeit und die neuen Menschen eingeführt. Auf der Kapija begannen, zum
ersten Male seit ihrem Bestehen, auch Frauen zu erscheinen. Die Beamtenfrauen
und -töchter, ihre Dienstmädchen und Ammen, verweilten hier im Gespräch oder
kamen an Feiertagen, um sich mit ihren Begleitern aus Heer oder Zivil hier
niederzusetzen. Das geschah nicht häufig, aber es verdarb den älteren Leuten,
die gekommen waren, um hier über dem Wasser in Ruhe und Frieden ihre Pfeife zu
rauchen, die Stimmung und verwirrte und erregte die jüngeren.
Es bestand natürlich schon immer
eine gewisse Verbindung zwischen der Kapija und den Frauen in der Stadt, aber
nur insofern, als die Männer kamen, um den Mädchen, die über die Brücke
gingen, irgendein Schmeichelwort zuzurufen oder um ihre Schwärmerei, ihren
Kummer oder Streit um Frauen hier auf der Kapija auszusprechen, auszutragen
oder abklingen zu lassen. Mancher Unbeweibte versaß hier Stunden und Tage in
stillem Singen (»so vor sich hin«) oder eingehüllt in Tabakrauch oder auch nur
in stummer Betrachtung des schnellen Wassers und zahlte so jener Schwärmerei
seinen Zoll, der wir alle verfallen und der sich nur wenige zu entziehen
vermögen. Mancher Eifersuchtshandel unter den jungen Burschen wurde hier
ausgetragen und beigelegt und manche Liebesränke gesponnen. Viel wurde von
Frauen und Liebe gesprochen oder geträumt, manche Leidenschaft geboren und
manche gelöscht. Alles dies hatte es immer gegeben, aber die Frauen selbst
hatten sich nie auf der Kapija aufgehalten, noch auf ihr gesessen, weder die
christlichen noch erst recht nicht die mohammedanischen. Nun hatte sich das geändert.
An Sonn- und Feiertagen trafen sich
auf der Kapija die Köchinnen mit rotem Gesicht und eingeschnürter Taille,
denen das Fett über und unter dem Mieder hervorquoll, daß es ihnen den Atem
abschnürte. Mit ihnen kamen ihre Unteroffiziere in ausgebürsteten Uniformen
mit blitzenden Knöpfen, roten Schnüren und »Schützentroddeln« auf der Brust.
An Werktagen aber ergingen sich am Abend die Beamten und Offiziere mit ihren
Frauen, machten auf der Kapija halt, sprachen in ihrer unverständlichen
Sprache, lachten laut und bewegten sich zwanglos.
Diese müßigen, ungezwungenen und
lachenden Frauen waren allen ein Dorn im Auge, den einen mehr, den anderen
weniger. Die Leute wunderten sich und zögerten eine Weile, dann aber begannen
sie, sich daran zu gewöhnen, wie sie sich schon an so viele andere Neuerungen
gewöhnt hatten, selbst wenn sie sie nicht annahmen.
Man kann überhaupt sagen, daß alle
diese Änderungen auf der Brücke unbedeutend, oberflächlich und von kurzer Dauer
waren. Zahlreiche und weittragende Veränderungen im Geist und in den
Gewohnheiten der Bürger und im äußeren Bild der Stadt verliefen, als gingen sie
an der Brücke vorüber, ohne sie zu berühren. Es schien, als würde die weiße,
alte Brücke, über die drei Jahrhunderte ohne Spur und Narben hinweggegangen
waren, auch unter dem neuen Herrscher unverändert bleiben und auch dieser Flut
von Neuheiten und Veränderungen widerstehen, wie sie immer auch den höchsten
Überschwemmungen widerstanden hatte, und aus den wütenden, trüben Wassermassen,
die sie überfluteten, unberührt und weiß, wie wiedergeboren, aufgetaucht war.
12
So wurde nun das Leben auf der Kapija noch lebhafter und
bunter.
Jetzt sammelte sich den ganzen Tag
über und noch in den späten Nachtstunden dieses ganze zahlreiche und bunte
Volk an, einheimisches und fremdes, Junge und Alte. Alle waren sie nur mit sich
und ihren eigenen Gedanken, Launen und Leidenschaften beschäftigt, die sie auf
die Kapija geführt hatten. Daher achteten sie auch nicht auf Vorübergehende,
die, geleitet von anderen Gedanken und eigenen Sorgen, gesenkten Hauptes oder
abwesenden Blickes, über die Brücke gingen, ohne rechts und links zu schauen
oder die zu beachten, die auf der Kapija saßen.
Zu diesen Vorübergehenden gehörte
jedenfalls auch Milan Glasintschanin vom Okolischte, ein großer, magerer,
bleicher und gebeugter Mann. Sein ganzer Körper wirkte wie durchsichtig und
schwerelos, aber als hätte er bleierne Füße. Daher schwankte er beim Gehen wie
das Heiligenbild in den Händen der Kinder bei einer Prozession. Haar und Bart
waren grau wie bei
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