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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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anderen. Niemals wieder Briefe aus Kolomeja, noch
Familienbilder, noch die Postanweisungen, die er mit soviel Stolz nach Hause
geschickt hatte. Das Ende eines Menschen, der sich getäuscht hatte und von anderen
täuschen ließ.
    Daher fand er auch nichts, was er
dem Rittmeister hätte antworten können.
    Die Aufsicht über Fedun war nicht
besonders streng. Man gab ihm Frühstück, das er wie mit fremdem Munde aß, dann
befahlen sie ihm, sein persönliches Gepäck bereitzumachen, Waffen und
Dienstsachen abzugeben, und um zehn Uhr würde er mit dem Postwagen in
Begleitung eines Gendarmen nach Sarajewo gebracht werden, wo man ihn dem
Garnisonsgericht übergeben werde.
    Während der junge Bursche seine
Sachen vom Brett über seinem Bett herunternahm, schlichen sich die paar
Kameraden, die noch im Schlafsaal waren, auf den Zehenspitzen hinaus und
schlossen vorsichtig und geräuschlos die Tür hinter sich. Um ihn bildete sich
jener Kreis von Einsamkeit und schwerer Stille, der sich immer um einen
Menschen, den das Unglück traf, wie um ein krankes Tier bildet. Er nahm zuerst
die schwarze Tafel vom Haken, auf der mit Ölfarbe in deutscher Sprache sein Name,
Dienstgrad, die Nummer seiner Abteilung und die Einheit, in der er diente,
verzeichnet waren, und legte sie auf seine Knie, wobei er die beschriebene
Seite nach unten drehte. Auf die schwarze Rückseite der Tafel schrieb der junge
Bursche mit einem Stück Kreide schnell und klein: »Alles, was ich hinterlasse,
an meinen Vater in Kolomej schicken. Ich grüße alle Kameraden und bitte die
Vorgesetzten, mir zu verzeihen. G. Fedun.« Dann blickte er noch einmal durch
das Fenster und sah soviel von der Welt, wie man in einer Sekunde von diesem beschränkten
Blickfeld aus erschauen konnte. Nun nahm er sein Gewehr, lud es mit einer
einzigen, scharfen Patrone, die vom Gewehrfett ganz klebrig war. Nachdem er
sich die Schuhe ausgezogen und mit dem Taschenmesser den Strumpf über der
rechten großen Zehe aufgeschnitten hatte, legte er sich auf das Bett,
umklammerte das Gewehr mit den Händen und Knien, daß die Mündung sich am Kinn
tief einpreßte, setzte den Fuß so an, daß das Loch im Strumpf auf den Abzug
kam, und drückte ab. Die ganze Kaserne hallte von dem Schuß wider.
    Nach einem großen Entschluß wird
alles leicht und einfach. Der Arzt kam. Eine Kommission stellte den Befund fest,
und das Protokoll darüber wurde in Abschrift dem Akt über Feduns Vernehmung
beigefügt.
    Nun erhob sich die Frage von Feduns
Beisetzung. Draschenowitsch erhielt Befehl, zu Pope Nikola zu gehen und mit
ihm zu sprechen, ob Fedun auf dem Friedhof beigesetzt werden könne, obgleich er
sich selbst das Leben genommen, und ob der Pope bereit sei, den Verstorbenen
einzusegnen, der dem unierten und nicht dem orthodoxen Glauben angehört habe.
    Im letzten Jahre war Pope Nikola
stark gealtert und begann, schwach auf den Füßen zu werden; er hatte sich daher
den Popen Joso als Gehilfen für seine große Pfarre genommen. Das war ein
schweigsamer, aber unruhiger Mann, mager und schwarz wie ein Rabe. In den
letzten Monaten hatte er alle Geschäfte und Zeremonien in der Stadt und auf den
Dörfern übernommen, und Pope Nikola, der sich nur noch mit Mühe bewegte,
erledigte im wesentlichen nur, was er hier in seinem Hause oder in der Kirche
ausüben konnte, die unmittelbar neben seinem Hause stand.
    Auf Befehl des Rittmeisters ging
Draschenowitsch zum Popen Nikola. »Großvater« empfing ihn, auf dem Sofa
liegend; neben ihm stand Pope Joso. Als ihm Draschenowitsch die Frage des Todes
und der Beisetzung Feduns vorbrachte, schwiegen beide Popen für einen
Augenblick. Da er sah, daß Pope Nikola nicht sprach, begann Pope Joso als
erster, unbestimmt und schüchtern: das sei eine außergewöhnliche und nicht
übliche Angelegenheit, es lägen da Hindernisse in den Kirchenvorschriften wie
in den festgelegten Gewohnheiten vor, und nur wenn nachgewiesen werden könne,
daß der Selbstmörder nicht bei klarem Bewußtsein und gesundem Verstande gewesen
sei, dann könne man etwas unternehmen. Aber da richtete sich Pope Nikola von
seinem harten und schmalen, mit einem alten, verblichenen Teppich bedeckten Lager
auf. Sein Körper nahm jene statuenhafte Kraft an, die er immer hatte, wenn er
durch die Stadt wandelte, die ihn von rechts und links grüßte. Das erste Wort,
das er aussprach, ließ sein breites, noch immer frisches Gesicht mit dem
gewaltigen Schnurrbart, der in den Bart überfloß, mit den völlig

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