Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Zuhause war, nur äußerst selten. Sie arbeitete im Blumenladen, der sich im Erdgeschoss befand, Großvater hatte seine Wohnung, vollgestopft mit Antiquitäten, im ersten Stock, und Mom und Lily wohnten ganz oben (also eigentlich im Dach). Dort hatten sie sich ihr kleines Refugium eingerichtet und mit allerlei Dingen ausgestattet, die Mom ein Gefühl von Sicherheit gaben. Überall war Kunst verteilt: Überbleibsel aus Moms Töpferphase (es gab ein ganzes Regal voller unförmiger Vasen), ihrer Mosaikphase (sie hatte das Bad neu gefliest, damit es wie ein Hamam aussah) und ihrer Mobilephase (sie hatten etwa ein Dutzend dieser beweglichen Spiralen aufgehängt, mit Vögeln und Segelbooten und Schmetterlingen). Durch die Dachfenster flutete Sonnenlicht herein. Auf jedem Regal, jedem Tisch, jedem Fensterbrett standen Pflanzen. Prunkwinde umrankte das Küchenfenster, und der Esstisch war ein einziger kleiner Rosengarten. Lily wusste, dass sich ihre Mutter ohne all diese Dinge hier nicht richtig sicher fühlte. Aber dass sie hier in echter Gefahr sein könnte, war ihr noch nicht in den Sinn gekommen. Sie lief schneller. »Meine Mom kümmert sich um mich, so wie alle Mütter es tun. Aber ich kümmere mich auch um sie. So ist das eben bei uns. Ich muss unbedingt nach ihr sehen.« Und falls der Legacy Test Mom in Gefahr brachte, würde sie ihn abbrechen.
Vielleicht sollte sie das ohnehin tun. Die Old Boys hatten doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, und Lily hatte keinen Vertrag unterschrieben, der Psychospielchen vorsah. Sie fragte sich, ob die Old Boys auch Dads Buch in der Bibliothek platziert hatten, um sie in die Irre zu führen. Vielleicht hatte Dad gar kein Buch geschrieben. Ob ihre Mutter etwas darüber wusste?
»Niemand kann dir vorwerfen, dass du dir Sorgen um deine Mutter machst«, sagte Jake. »Ich bin sicher, die Mitglieder der Zulassungskommission werden dich nicht dafür bestrafen, wenn du vom Test abweichst.« Restlos überzeugt klang er nicht, und Lily fragte sich eine Sekunde lang, ob sie sich nicht wirklich zu viele Sorgen machte. Mom ging es bestimmt gut. Wie Jake ganz richtig bemerkt hatte, war Grandpa bei ihr. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie ihrem Großvater erklärte, dass sie vorhabe, den Test abzubrechen. Sie würde lieber sterben als ihn zu enttäuschen.
Zum zweiten Mal an diesem Tag betrat sie das Fiftieth Reunion Tent. An der Anmeldung verlangsamte Lily ihren Schritt, doch Jake warf dem Einlass-Pärchen ein strahlendes Grinsen zu und schob sie einfach an den beiden vorbei. »Du weißt, welches Zimmer?«, fragte Lily, während sie das Zelt durchquerten.
»Man hat uns alle darüber informiert, wo du untergebracht bist«, antwortete Jake.
»Oh«, entfuhr es Lily. Sie wettete, »alle« würden ebenso informiert werden, wenn sie den Test hinschmiss, und Großvater würde vor Scham im Boden versinken.
Sie folgte Jake in eines der Wohngebäude, wo sie eine Betontreppe hinaufstiegen. Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme aus voller Kehle bekannte Musicalmelodien schmettern. Mom, dachte sie erleichtert. Sie ist okay . Neben der Spur, aber okay. Grandpa musste schon bei ihr gewesen und wieder gegangen sein – wäre er noch da, würde sie nicht so laut singen. Lily spürte, wie sich ihre Rückenmuskulatur langsam wieder entkrampfte. Jetzt erst wurde ihr klar, wie beunruhigt sie gewesen war.
»Du musst nicht mit mir mitkommen«, sagte sie zu Jake. Ihre Mutter mit dem glorreichen Heldenenkel von Mr Mayfair bekannt zu machen, stand nicht gerade ganz oben auf ihrer Wunschliste.
»Wie soll ich dich denn beschützen, wenn ich nicht in deiner Nähe bleibe?«, widersprach Jake.
»Kannst du nicht – ich weiß nicht – den Flur gründlich nach grünen Äffchen absuchen und dann auf mich warten?«, schlug sie vor. »Mom wird mir nicht sagen, wie es ihr wirklich geht, wenn du dabei bist.« In Gegenwart anderer Leute spielte Mom immer Friede, Freude, Eierkuchen. Falls sie einen Feeder gesehen hatte, würde sie das vor Jake nicht zugeben. Und sie würde niemals mit ihr über Dad sprechen. »Bitte«, beharrte Lily. »Ich komm schon klar. Oder klingt das vielleicht gefährlich?« Sie deutete in Richtung des Zimmers, aus dem der Gesang kam. »Ich meine, mal abgesehen von dem Angriff auf unsere Trommelfelle?«
»Ruf mich, wenn du mich brauchst«, sagte Jake grinsend. »Ich bin im Handumdrehen zur Stelle.« Er lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme, sodass seine Muskeln hervortraten.
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