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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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übel aussehenden Sumpfes, dahinter eine grü-
    ne Stelle, die mit Riedgras bewachsen war: vielleicht sicher, vielleicht nicht. Rechts lag ein sich sacht bewe-gender Baumstamm, nicht verfault, aber auch nicht
    verläßlich. Dieser Stamm war, vier Yards von uns entfernt, in den Schlamm gerammt. Dicht vor uns lag
    nichts als dampfendes Verderben. Oder wir hätten
    zurückgehen können.
    Mister Morris war dafür, am Stamm entlangzuge-
    hen. Mister Trumpet wollte den leichten Yard über-
    springen und zur grünen Fläche. Der Kapitän sto-
    cherte den Stamm mit seinem Stock ab und sagte:
    »Du mußt Gründe haben, Morris, du bist ein ver-
    ständiger Mann. Los, raus damit!«
    »Was für Gründe?« warf Mister Trumpet zornig
    ein. »Was kann er mehr haben als wir anderen? Wie
    wir muß er sich an das Aussehen der Dinge halten.
    Und warum sollte sein Blick besser sein als meiner?
    Wie? Schärfere Augen? Nicht die Bohne! Er hat nicht mehr Kenntnis als Jack hier von Sumpf und Morast.
    Ich habe das schon früher erlebt. In Virginia. (In Virginia, wenn’s Eurer Lordschaft beliebt.) Dieser
    Stamm wird sich im Schlamm drehen, und wir wer-
    110
    den kentern und sinken. Der Schlamm ist bodenlos,
    nicht fest. Der Fleck auf der Linken bietet Sicherheit.
    Seht! Dahinter ist noch mehr.«
    »Morris, deine Gründe, Mann«, beharrte der Ka-
    pitän.
    Mister Morris machte ein finsteres Gesicht und
    rieb sich die wunde Brust.
    »Der Stamm scheint hier hingelegt –« er hielt inne, als begreife er, daß seine Gründe keine Gründe waren, sondern etwas Tieferes, dem er mehr vertraute, und daher auch wollte, daß wir ihm vertrauten. Aber aus Respekt vor dem Kapitän fuhr er fort: »Er ist in den Schlamm gerammt – steckt nicht nur leichthin.
    Ich nehme das als Zeichen. Auf dem ganzen Weg,
    den wir gekommen sind, haben wir uns von solchen
    Zeichen leiten lassen. Zerbrochene Zweige, niederge-tretene Gräser und dergleichen. Bei jeder Weggabe-
    lung haben wir den genommen, der markiert zu sein
    schien. Und wir sind dabei sicher gegangen. Dieser
    Stamm scheint – mir wenigstens – ein Wegzeichen.«
    Währenddessen muß sich Mister Trumpet hin und
    her überlegt haben, ob die Meinung von Mister Mor-
    ris die klügere sei. Als der Kapitän nickte, kam er zu seinem Entschluß.
    »Platz da!« schrie er plötzlich und machte den
    yardlangen Sprung auf die Grünfläche. »Ich zeige
    euch, welcher Weg der richtige ist.«
    Der Kapitän handelte rasch – erstaunlich rasch,
    aber ob er das Unheil verhindern oder herbeiführen
    wollte, ist unmöglich zu sagen. Vielleicht verfing sich 111
    Mister Trumpets Fuß in dem Stock, als er gehoben
    wurde. Vielleicht wurde der Stock hochgehalten, um
    ihn aufzuhalten. Vielleicht rutschte ein Fuß im
    Schlamm aus. Vielleicht wurde ein Fuß in den
    Schlamm getan ? Zehntausend Vielleichts finden jetzt keine Antwort mehr.
    Im selben Augenblick, in dem er noch bei uns
    stand, wie es schien, stak Mister Trumpet plötzlich bis zur Brust im Sumpf.
    Viele Male habe ich in den Straßen von Holborn
    gekichert, wenn ein Herr in schönster Schale aus-
    rutschte und in den Gossendreck platschte, aber nie mehr wieder. Ich will nicht mehr lachen. Denn ich
    werde stets an diesen anderen Dreck denken und an
    Mister Trumpet, der kreischte und sich vergeblich
    mühte, als seine armen Arme den schleimigen Schlick zu einem faulen schwarzen Geschwür aufrührten. Die
    Fläche mit Riedgras hatte sich unter ihm geöffnet.
    Manchmal war er bis zur Taille frei, und der
    Sumpf rollte von seinem Rücken ab wie eine Robe,
    manchmal fürchtete ich, daß er versunken sei … bis
    sein beflecktes weißes Gesicht wieder auftauchte und etwas wie eine Hand uns aus dem Morast entgegen-wuchs. Einmal sah ich den langsamen Tanz seiner
    Beine, als er in einer schimmernden Fallgrube sich
    loszuzappeln schien. Dann fielen die Seiten ein, und das ganze blinde Leben des Sumpfes muß ihn um-garnt haben.
    Mister Morris, der halbwegs den Stamm überquert
    hatte und selbst in großer Gefahr war, konnte nichts 112
    tun. Er konnte nur mit erschrecktem Mitleid zusehen.
    So wenig er auch Mister Trumpet mochte, so konnte
    er doch bei dieser seiner schaurigen Lage nicht
    gleichgültig bleiben.
    Es blieb also dem Kapitän und mir – seinen beiden
    schlimmsten Feinden – überlassen, zu tun, was wir
    konnten und durch Vorbeugen und Handausstrecken
    seine schlüpfrige Hand zu ergreifen. Als ich sie erfaß-
    te, dachte ich auf einmal an jene andere Hand, die ich

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