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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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ähnlich sehen,
    wenn Sie diesem Burschen so im Kopf spuken.«
    »Das tue ich.«
    »Auffällig?«
    »Auffällig.«
    Mister Morris stellte sich ziemlich langsam auf die Beine. Der Ausdruck seines Gesichtes zeigte nur eine gewisse Spannung. Er schien den unseligen Mister
    Trumpet völlig vergessen zu haben.
    »Und sonst noch viel mit ihm gemeinsam?«
    »In der Tat, auch sonst noch viel.«
    »So sehr, daß Sie derselbe Mann sind?«
    »Ja, so sehr.«
    Die Pistole hatte sich irgendwie genau auf die Brust des

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    Kapitäns gerichtet. Sie wich nicht von ihrem Ziel.
    Mister Morris hatte ein ungewöhnlich kräftiges
    Handgelenk.
    »Seltsam – klug, selbst – ich hab’s nie geahnt –«
    »Warum? Warum solltest du?«
    »Weil ich glaubte, Sie zu kennen.«
    »Das war ein Irrtum.«
    »Wir sind lange zusammen gewesen –«
    »Und –?«
    »– ich hatte Sie schätzengelernt –«
    »Wofür?«
    »Für das, was Sie waren.«
    Der Kapitän blieb vollkommen regungslos und
    bemühte sich, Mister Morris in die unversöhnlichen
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    Augen zu starren. Nachdem ihm der letzte Freund
    verloren war, stand er ungemütlich allein in der Welt.
    »Willst du mich dafür erschießen, daß ich anders
    bin … anders, als du mich geglaubt hast?«
    »Warum – möchten Sie erst beten?«
    »Nein.«
    »Das wenigstens spricht für Sie. Ich hätte gedacht, Sie würden um der Wirkung willen knien.«
    »Wenn ich gerichtet werden soll, dann nicht für
    meine letzten Sekunden.«
    »Dann helfe Ihnen Gott, wenn’s für den sonstigen
    Lebenswandel ist.«
    Mister Morris sah auf den Pistolenlauf hinunter
    und dann auf die Brust des Kapitäns. Die Entfernung betrug etwas mehr als einen Yard.
    »Dann können Sie ebensogut am Leben bleiben«,
    sagte er mit einer Stimme, die weder verächtlich noch bitter, noch ins Schicksal ergeben war. (Auch lag weder Vergebung noch Gnade darin.) Mister Morris er-
    litt seinen völligen Schiffbruch in vornehmer Ruhe.
    »Jack«, sagte er etwas barsch zu mir, »jetzt sehen
    wir also, daß in der Welt nichts groß oder mächtig ist
    – nur die Dummheit …«

    Mister Trumpets Teufel war also aus dem Sack. Er
    lag auf dem Rücken und schien zu schlafen, als hätte die Bürde, die er abgeworfen hatte, ihm Erleichterung verschafft. Jetzt war es Mister Morris, der sie zu tragen hatte. Ich für meinen Teil war zu jener Zeit lediglich verwirrt.
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    Der große Lord Sheringham hier an meiner Seite?
    Der berühmte Lord Sheringham mein Gefährte? Ehr-
    lich gesprochen waren das meine ganzen Empfindun-
    gen. Vielleicht lag das an den außergewöhnlichen
    Umständen: dem sterbenden Mister Trumpet, der
    verstümmelten Schlange, unserem Reichtum und un-
    seren Leidenschaften, vielleicht lag es an diesen stür-mischen Umständen, daß mir keins seltsamer vorkam
    als der Rest …
    Denn es fiel mir nicht schwer, ihn als Lord She-
    ringham hinzunehmen. Ich hätte von diesem kalten,
    schmächtigen Mann mit seinen eigenartigen Fischau-
    gen und der jetzt ruinierten ländlichen Hautfarbe alles glauben können. Aber ich konnte mir nicht vor-
    stellen, was Mister Morris so aus dem Sattel gehoben hatte. Daß der Kapitän vieles getan hatte, was Lord Sheringham schlecht zu Gesicht stand, wußte ich.
    Aber was hatte der weise und ehrbare Lord Shering-
    ham getan, das in dem Kapitän so ungeheuerlich
    schien? Was konnte ein guter Mann tun, das einen
    schlechten verunehren würde – selbst in den bitteren Augen eines Freundes? Oder war vielleicht Mister
    Morris ein so treuer Diener des Bösen, daß alles Gute sein Todfeind war? Er griff sich an die Brust, als hät-te sein Herz einen tödlichen Stoß erhalten.
    »Gott erhalte Sie, Lord Sheringham«, sprach Mi-
    ster Trumpet plötzlich in seinem Delirium. »Sie sind ein gnädiger Mann. Ich verdanke Ihnen mein Leben.«
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    XII
    Die Hoffnung für Mister Trumpet wurde kurz nach
    Mitternacht aufgegeben. Davor schien noch eine
    Chance zu sein – schien ein Zweck sozusagen darin
    zu liegen, daß wir uns um ihn kauerten und darauf
    warteten, daß die Wut des Fiebers nachließ. Aber
    dann wurde es durch jahreszeitliche Unwetter ver-
    schlimmert. Das ungeheure Brausen in dem Dach des
    Waldes gab ihm keine Ruhe, als er sie so dringend
    nötig brauchte. Als es vorbei war, lag er scheinbar schlafend, aber mit weit offenen Augen und starrte in die Düsternis über sich. So unverrückt starrte er, daß es unmöglich war, nicht von Zeit zu Zeit selbst em-porzublicken, um zu entdecken, was seine Aufmerk-
    samkeit so

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