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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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starrte auf den staubigen Fußboden und auf
    Mister Trumpets Hand, die wie eine Klaue auf sei-
    nem steifen Knie ruhte. Unwiderstehlich drängten
    sich Erinnerungen in meinen Kopf, Erinnerungen an
    die dunkle Nacht, in der ich die Charming Molly
    in Bristol betrat. Erinnerungen an …
    »Nichts ist mir lieb wie ein Lond’ner Jung’! Scharf, einschneidend, genau!«
    Mein Gott! Wie mir alles zurückkam. Seine Stim-
    me – noch so gut bekannt – brach herein. War es
    noch für William Wild? Nein: ein anderer armer
    Sünder, dem aus dem Leben verholfen wurde. Wor-
    um ging das Ganze? Gott weiß!
    Die Anwälte hatten getönt, Zeugen gezeugt, Ange-
    klagte geschworen … Was geschworen? Daß schwarz
    weiß war. Daß die Augen von Menschen trügerisch
    waren. Daß dieser Mann, der sie sah, sich geirrt hatte, daß sie anderswo gewesen wären – zur fraglichen Zeit ein Dutzend Meilen entfernt. Daß es ein ganz anderer 237
    Mann gewesen war, etwas ähnlich im Gesicht … sehr
    wie … sehr wie … ein Doppelgänger, der die zur Ver-
    handlung stehende Tat begangen hatte. Die Welt
    schien an jenem Morgen voller Doppelgänger zu sein.
    »Ein Doppelgänger! Glauben Sie das, meine Her-
    ren Geschworenen? Wenn Sie’s glauben, dann glau-
    ben Sie alles. Ein Doppelgänger! Ach ja, wir kennen solche Doppelgänger, was?«
    Er höhnte und kicherte weiter: und zeichnete Hen-
    kerschlingen in die Ohren der geschmeichelten Ge-
    schworenen. Und alles mit seiner sonnigen Stimme.
    »Ein Gärtner – ein Weihnachtsgärtner – ganz drauf
    aus, schlechte Früchte an den Galgenbaum zu hängen.«
    »Gut gesagt, Junge! Sehr witzig!« Unser fetter
    Freund vor uns schüttelte sich vor Lachen, und wir
    beugten uns tief vor einem diamantenharten Blick
    vom Richterstuhl. Hatte er uns gesehen? »Um Gottes
    willen, Jack. Halt den Mund!«
    Warum dauerte es so lange, bis unser Fall an der
    Reihe war? Warum dieses ganze Gerede von Doppel-
    gängern? Immer und immer wieder … Wurde er von
    dem Gedanken verfolgt? Hegte er einen Argwohn?
    Bereitete er sich, uns und das Gericht auf das Kom-
    mende vor?

    Dann endlich kamen die Worte, auf die ich gewartet
    hatte –
    »Vorführen: Kapitän Rogers.« Vorführen … In der
    Tat … »Das wird eine Vorführung …«
    »Sie haben da einen aufgeweckten Jungen!«
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    »Lassen Sie Kapitän Rogers vorführen!«
    Behaglich vom Richterstuhl: » Kapitän Rogers? Er hat keinen Taufnamen? Vielleicht ist er kein Christ?
    Oder ist ›Kapitän‹ sein Taufname? Nicht sehr christlich, aber vor Gott sind wir alle Soldaten ohne Rang, wie?«
    Er lachte – und stiftete Gelächter. Die Anwälte
    lachten, die Platzanweiser wieherten, ebenso die
    Schreiber und die Geschworenen. Fröhliche Leute.
    Unser Augenblick: ich hätte zehn Millionen Pfund
    gegeben, um eine Meile entfernt zu sein und nichts zu wissen, bis es vorüber war. Meine und Mister Trumpets Spannung waren furchtbar. Ich hörte ihn ras-
    selnd atmen, und das Herz brach mir beinahe die
    Rippen entzwei. Warum war er nicht gekommen?
    Was war fehlgegangen?
    Dann verdünnte sich das Gelächter und verklang –
    fast plötzlich; es endete mit dem Gegacker eines ein-zelnen Narren, das in der Luft stand, als hätte er ein Ei gelegt und schämte sich dessen.
    Ich wagte nicht zu schauen, weder auf den Richter
    noch auf die Anklagebank. Aber da war er: Kapitän
    Rogers. Der Richter war weiß geworden. Todweiß.
    »Er ist krank«, murmelte einer. »Ein Anfall!«
    Dann kam ein sonderbar lautes Krachen. Das war
    der Federkiel, der zwischen Daumen und Zeigefinger
    zerbrochen wurde. (Man braucht dafür einige Kraft:
    beträchtliche Kraft.)
    Endlich sprach er, harte, bemühte Worte, die er ei-
    ner gefrorenen Kehle entrang … alles was er tun
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    konnte … alles was er sagen konnte … Welch ein
    tödlicher Augenblick für ihn. Sein Herz muß sich in Eis verwandelt haben. Aber er schlug zurück.
    »Ich – kann – diesen – Mann – nicht – richten. Er
    ist mir bekannt … schon … seit langem … Ich kann
    ihn nicht richten. Ein anderes Gericht. Ich kann diesen Mann nicht richten …«
    Die Luft war heiß, still, atemlos geworden. Män-
    ner hatten sich halb erhoben, reckten die Hälse, der fette Mann vor uns war zum Gebirge geworden. Ich
    konnte nichts sehen. Was taten die Wachen? Standen
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    wie verdattert? Und die Gerichtsdiener und Anwälte?
    Ein Mann hustete. Vielleicht der Schreiber, der an der ungelesenen Klageschrift würgte?
    »Ich kann diesen Mann nicht

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