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Jack Holborn unter den Freibeutern

Jack Holborn unter den Freibeutern

Titel: Jack Holborn unter den Freibeutern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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ihn beinahe um. Als er zu-
    rückkam, war er weiß wie das Gespenst, das er gese-
    hen zu haben glaubte, bis auf die Haut durchnäßt,
    weil er stockstill im strömenden Regen gestanden
    hatte …
    Mein guter Freund, Mister Trumpet … Dies waren
    seine Tage, und er schwang sich zu ihnen auf wie ein Adler …

    227
    Wir hatten verabredet, daß ich in einem nahegelege-
    nen Wirtshaus im Warmen warten sollte. Was ich
    auch tat, wobei ich vor dem müßigen Feuer fast eine halbe Stunde vor Erwartung fror. Dann kam er zu-rück und erzählte mir, was er im Fenster von Num-
    mer 17 gesehen hatte – und die ganze Welt war ver-
    gessen. Das arme Feuer, die braun angelaufenen
    Wände und die dunkle Decke, ja London selbst, alles schien sich aufzulösen, und ich war wieder auf der
    Charming Molly in jenen ersten hoffnungsvollen
    Tagen.
    Er sagte, er hätte einen Mann von der Charming
    Molly gesehen: einen Mann mit einer ländlichen
    Gesichtsfarbe und seltsamen Fischaugen.
    »Aber der sitzt in Weymouth im Gefängnis.«
    »Aber der ist in der Dover Street.«
    »Sie sind verrückt geworden, Mister Trumpet.«
    »Die Natur auch, Jack Holborn: denn sie hat ihrer
    zwei gemacht.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Zwillinge, Jack Holborn. Sie sind Zwillinge. Zwei
    Brüder mit dem gleichen Gesicht.«
    »Mein Gott, Mister Trumpet! Mein Gott!«
    »Ja, wirklich, Jack – viel anderes ist nicht übrig, worauf man vertrauen könnte – stimmt’s alter Freund?
    Falls nicht der Teufel sein Zwilling ist –«
    Er schwieg eine Weile und fuhr dann halb im
    Selbstgespräch fort: »Der Mann in Weymouth ist der
    Richter, denn er kannte mich. Der Mann in der Do-
    ver Street ist der andere: und der kennt dich, Jack. Er 228
    kennt dich von den ersten Tagen an Bord der Mol-
    ly, bevor ich kam. Das ist der Grund dieser Bot-
    schaft. Ja, natürlich! Um Gottes willen, bring nicht den Jungen mit!« Er zog die Schultern hoch und
    furchte die Stirn, begann sich dann gewisser Dinge zu erinnern, die er vor langer Zeit gehört hatte: daß
    Lord Sheringham einen Besitz an der Südküste hatte; daß Lord Sheringham wegen Familienschwierigkeiten
    selten dorthin ging; daß es vage und dunkle Gerüchte gab, er hätte einen Bruder … sehr ähnlich … aber
    nicht so ehrenwert …
    Gott mußte wissen, was für eine hassenswerte
    Schande und Schuld die Existenz eines so verkomme-
    nen Zwillings über den Richter gebracht hatte. Die
    ständige Panik, daß dieser Mann manchmal zurück
    kam und mit ihm verwechselt wurde. Der Gedanke,
    daß seine ganze eigene Ehre und Rechtlichkeit wie ein geliehener Anzug getragen und höchst böswillig befleckt werden konnten. Und er muß Grund gehabt
    haben, das zu fürchten. Vielleicht nicht so sehr für sich selbst, sondern für die, die verführt und durch das, was sie für Tugend hielten, ruiniert und verdammt wurden. Denn kein Übel ist so scheußlich wie
    das, das man für Güte hält.
    »Hat er denn – seinen Bruder töten wollen?«
    »Ich nehme an, er ist soweit getrieben worden – es
    mit seinen eigenen Händen zu tun, Jack. Denn er hat sich nie dazu aufraffen können, ihn öffentlich hängen zu lassen. Aber als sich ihm eine Chance bot –«
    »– der Hinterhalt?«
    229
    »Der Hinterhalt. Ein doppelter Verrat, nehme ich
    an. Dein Kapitän war dafür gerüstet. Gott im Him-
    mel! Was das für ein Treffen gewesen sein muß – da
    im Dunkel am Strand. So kämpften sie denn, und der
    drahtigere, schlimmere siegte und ließ den anderen, glücklosen, dreiviertel toten Lord Sheringham an
    Bord der Charming Molly schleppen – von dem
    getäuschten Mister Morris. Es muß ein erfreutes Lä-
    cheln auf seinem Gesicht gewesen sein, als er zusah, wie dieser gefährliche Körper so rücksichtsvoll entfernt wurde.«
    Ein mürrischer Hausbursche drängte sich vorbei
    und warf neues Holz auf das sterbende Feuer. Es
    zischte und bebte und sandte einen Sturm von Fun-
    ken hoch, die im schwarzen Loch des Abzugs vergin-
    gen. Dann begann sich das neue Holz zu entzünden,
    kleine Zungen kosteten es nervös – mehr und mehr –
    bis es schließlich sein eigener Geist wurde hinter einem hellgelben Schleier von Flammen.
    Und die ganze Zeit mußte ich an diese dreiviertel
    Leiche denken, (die irrtümlich liebevoll gepflegt wurde), die nicht starb, wie es zuversichtlich erhofft worden war. Sie lebte – und erwachte. Und welch ein
    Erwachen das gewesen sein muß!
    Der Schrecken und die Einsamkeit. Wie er nach ei-
    nem Freund gesucht haben muß,

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