Jack McEvoy 01 - Der Poet
konnte ihr nicht in die Augen sehen. Ich ging mit gesenktem Kopf auf die Tür zu.
»Hey, was sagt man?«, fragte sie.
Ich murmelte meinen Dank und hörte, wie sie ganz leise lachte.
Sie hatte sich geirrt. Wir kamen dem Stoßverkehr nicht zuvor. Es war Freitagabend. Mehr Leute als an anderen Abenden versuchten, aus der Stadt herauszukommen, und wir krochen mit ihnen dahin. Eine halbe Stunde lang sagte keiner von uns ein Wort, außer wenn sie über den Verkehr oder eine rote Ampel fluchte.
Ich saß neben ihr und dachte die ganze Zeit über nach. Ich musste so bald wie möglich Glenn anrufen. Sie mussten mir einen Anwalt besorgen. Einen guten. Ich erkannte, dass mein einziger Ausweg darin bestand, einen Informanten preiszugeben, dem ich versprochen hatte, dass ich ihn nie preisgeben würde. Ich erwog die Möglichkeit, dass Warren auf meine Bitte hin mit der Sprache herausrückte und bestätigte, dass ich nicht in die Foundation eingebrochen war. Aber ich verwarf sie. Ich hatte mit ihm eine Vereinbarung getroffen, und an die musste ich mich halten.
Als wir endlich südlich von Georgetown waren, wurde der Verkehr ein bisschen dünner, und Walling schien sich zu entspannen oder sich zumindest daran zu erinnern, dass ich neben ihr saß. Ich beobachtete, wie sie in den Aschenbecher griff und eine weiße Karte herausholte. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung ein und hielt die Karte oben vor das Lenkrad, damit sie beim Fahren lesen konnte, was darauf stand.
»Haben Sie einen Füllfederhalter?«
»Wie bitte?«
»Einen Füllfederhalter. Ich dachte, alle Reporter hätten einen Füllfederhalter.«
»Ja, ich habe einen.«
»Gut. Ich werde Ihnen jetzt Ihre verfassungsmäßigen Rechte, vorlesen.«
»Was für Rechte? Sie haben doch schon gegen die meisten verstoßen.«
Sie las mir vor, was auf der Karte stand, und fragte dann, ob ich alles verstanden hätte. Ich murmelte ein Ja, und sie händigte mir die Karte aus.
»Okay, gut. Und nun möchte ich, dass Sie Ihren Federhalter s nehmen und mit Namen und Datum unterschreiben.«
Ich tat, was sie verlangte, und gab ihr die Karte zurück. Sie blies über die Tinte, bis sie trocken war, dann steckte sie die Karte in ihre Tasche.
»So«, sagte sie. »Jetzt können wir uns unterhalten. Es sei denn, Sie wollen Ihren Anwalt anrufen. Wie sind Sie in die Foundation gekommen?«
»Ich bin nicht eingebrochen. Mehr kann ich nicht sagen, bevor ich mit einem Anwalt gesprochen habe.«
»Sie haben den Beweis gesehen. Wollen Sie behaupten, dass er nicht von Ihnen stammt?«
»Das lässt sich erklären ... Hören Sie, ich sage lediglich, dass ich nichts Illegales getan habe, um an diese Kopien zu kommen. Mehr kann ich nicht sagen, ohne preiszugeben ...«
Ich beendete den Satz nicht.
»Der alte Trick mit dem >Ich kann meinen Informanten nicht preisgeben<. Wo sind Sie heute den ganzen Tag über gewesen, Mr. McEvoy? Ich habe seit Mittag auf Sie gewartet.«
»Ich war in Baltimore.«
»Und was haben Sie dort gemacht?«
»Das geht nur mich etwas an. Sie haben die Originale von
diesen Protokollen, also können Sie es sich selbst zusammenreimen.«
»Der McCafferty-Fall. Ihnen ist doch bekannt, dass Einmischung in eine Ermittlung des Bundes zur Erhebung zusätzlicher Anklagen führen kann?«
Ich bedachte sie mit meinem besten falschen Lachen.
»Ach, wirklich?«, sagte ich sarkastisch. »Welche Ermittlung denn? Wenn ich nicht gestern mit Ford gesprochen hätte, würden Sie immer noch in Ihrem Büro sitzen und Selbstmorde zählen. Aber das ist wohl typisch für das FBI. Wenn es eine gute Idee ist, dann ist es unsere Idee. Wenn ein Fall erfolgreich aufgeklärt wird, haben wir ihn aufgeklärt. Doch bis dahin heißt es, nichts Böses hören, nichts Böses sehen und eine Menge Scheiße unbeachtet lassen.«
»Himmel, wer ist gestorben und hat Sie zum Experten gemacht?«
»Mein Bruder.«
Darauf war sie nicht gefasst gewesen, und es ließ sie für ein paar Minuten verstummen. Außerdem schien es den Effekt zu haben, dass es die Schale durchbrach, mit der sie sich umgeben hatte.
»Das tut mir Leid«, sagte sie schließlich.
»Mir auch.«
All die Wut über das, was Sean widerfahren war, wallte wieder einmal in mir hoch, aber ich schluckte sie herunter. Walling war eine Fremde, und ich konnte so etwas Persönliches nicht mit ihr teilen. Ich schob den Gedanken beiseite und dachte an etwas anderes.
»Vielleicht kennen Sie ihn sogar. Sie haben die VICAP-Expertise und das Profil unterschrieben, das
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