Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
so, dass ich im Moment niemandem trauen kann. Verstehen Sie das?«
»Ja, das verstehe ich.«
»Okay, dann mache ich jetzt Schluss, damit Sie bei der Fluggesellschaft anrufen können. Danke, Jacob. Melden Sie sich, wenn Sie in Washington sind.«
Pierce beendete das Gespräch. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er in Kaz’ Augen möglicherweise Zweifel an Charlie Condon geäußert hatte. Aber ihm war klar, dass er kein Risiko eingehen durfte. Er wählte Condons Durchwahl. Er war noch da.
»Ich bin’s, Henry.«
»Ich war gerade in deinem Büro, um nach dir zu sehen.«
»Ich bin zu Hause. Was gibt’s?«
»Ich dachte, du würdest dich vielleicht von Maurice verabschieden wollen. Aber du hast ihn verpasst. Er ist schon weg. Er fliegt morgen nach New York zurück, aber er wollte vor der Abreise noch mal mit dir sprechen. Er ruft morgen früh an.«
»Gut. Seid ihr euch einig geworden?«
»Prinzipiell sind wir zu einer Einigung gekommen. Ende nächster Woche stehen die Verträge.«
»Und die Bedingungen?«
»Ich hab die zwanzig bekommen, aber auf drei Jahre und folgendermaßen verteilt: gleich zu Beginn zwei Millionen und dann alle zwei Monate jeweils eine Million. Er wird Vorstandsvorsitzender und kriegt seine zehn Prozent. Seine Anteile steigen mit seinen Investitionen. Ein Prozent bekommt er für die Million gleich zu Beginn und dann alle vier Monate ein weiteres Prozent. Wenn etwas dazwischenkommt und er frühzeitig aussteigt, stehen ihm nur die Prozentpunkte zu, die er bis dahin angesammelt hat. Wir haben die Option, sie innerhalb eines Jahres zu achtzig Prozent zurückzukaufen.«
»Okay.«
»Bloß okay? Findest du das nicht großartig?«
»Es ist ein guter Deal, Charlie. Für uns und für ihn.«
»Ich finde es großartig. Und er auch.«
»Wann kriegen wir den Vorschuss?«
»Die Frist auf dem Anderkonto ist dreißig Tage. Ein Monat, und dann kriegen alle eine Gehaltserhöhung, richtig?«
»Yeah, richtig.«
Pierce wusste, Condon erwartete wegen des erfolgreichen Vertragsabschlusses Begeisterung, wenn nicht sogar die Bereitschaft herumzublödeln. Aber damit konnte er nicht dienen. Er fragte sich, ob er Ende des Monats überhaupt noch hier wäre.
»Und wohin hast du dich so plötzlich verdrückt?«, fragte Condon.
»Äh, nach Hause.«
»Nach Hause? Wieso? Ich dachte, wir hätten –«
»Ich musste Verschiedenes erledigen. Hör zu, wollten Maurice oder Justine von dir noch irgendetwas über mich wissen? Zum Beispiel über den Unfall?«
Darauf trat erst einmal Schweigen ein. Ganz offensichtlich dachte Condon über die Frage nach.
»Nein. Eigentlich dachte ich, sie kämen noch mal damit an und wollten vielleicht den Unfallbericht sehen, aber das war nicht der Fall. Ich glaube, was sie im Labor gesehen haben, hat sie so beeindruckt, dass sie nicht mehr interessiert, was mit deinem Gesicht passiert ist.«
Pierce erinnerte sich an die blutrote Farbe von Goddards Gesicht im Blickfeld der wärmeempfindlichen Brille.
»Hoffentlich.«
»Willst du mir nicht endlich mal erzählen, was dir wirklich passiert ist?«
Pierce zögerte. Er hatte ein schlechtes Gewissen, Condon etwas zu verheimlichen. Aber er musste vorsichtig bleiben.
»Im Moment nicht, Charlie. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
Das hatte zur Folge, dass Condons Antwort etwas auf sich warten ließ, und in der Stille spürte Pierce, welche Verletzung er ihrer Beziehung zufügte. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, hinsichtlich Charlie Condon Gewissheit zu erlangen. Wenn es nur eine Frage gäbe, die er ihm stellen könnte. Diesmal ließ ihn seine angewandte Psychologie im Stich, sodass nur Schweigen blieb.
»Na schön«, sagte Condon. »Dann machen wir jetzt vielleicht besser Schluss. Herzlichen Glückwunsch, Henry. Heute war ein guter Tag.«
»Herzlichen Glückwunsch, Charlie.«
Nachdem er aufgelegt hatte, holte Pierce seinen Schlüsselbund heraus. Er wollte etwas nachprüfen. Aber nicht die Schlüssel für die Vorhängeschlösser. Die hatte er im zweiten Stock von U-Store-It auf einem Ausgangleuchtschild versteckt. Er sah sich den Schlüsselbund an, um sich zu vergewissern, dass er den Schlüssel für das Haus am Amalfi Drive noch hatte. Wenn Nicole nicht zu Hause war, würde er trotzdem nach drinnen gehen. Und dort auf sie warten.
34
Pierce nahm die California Incline zum Küsten-Highway hinunter und fuhr dann nach Norden zur Mündung des Santa Monica Canyon. An der Channel bog er rechts
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