Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
nach drinnen. Sie hatte eine verblichene Jeans und einen leichten marineblauen Sweater an. Der Sweater war so kurz, dass ihr gebräunter Bauch und der Goldring in ihrem Nabel zu sehen waren. Sie war barfüßig, und Pierce nahm an, ihre Lieblingsclogs waren irgendwo in der Nähe.
»Henry. Was machst du denn hier?«
»Ich muss mit dir reden. Darf ich reinkommen?«
»Also, ich erwarte ein paar Anrufe. Könntest du –«
»Von wem, Billy Wentz?«
Sie stutzte. In ihre Augen kam ein verständnisloser Ausdruck.
»Wer?«
»Du weißt genau, wer. Oder vielleicht Elliot Bronson oder Gil Franks?«
Sie schüttelte den Kopf, als täte er ihr Leid.
»Hör zu, Henry, wenn du hier den eifersüchtigen Exfreund spielen willst, kannst du dir das sparen. Ich kenne keinen Billy Wentz, und ich versuche auch nicht, bei Elliot Bronson oder Gil Franks eine Stelle zu bekommen. Weißt du nicht mehr, mein Arbeitsvertrag enthält eine Klausel, dass ich keine Stelle bei der Konkurrenz annehmen darf?«
Davon bekam seine Rüstung eine Scharte. Sie hatte seinen ersten Angriff so gekonnt und selbstverständlich abgewehrt, dass seine Entschlossenheit ins Wanken geriet. Sein ganzes Zerlegen und Analysieren und Zermahlen von einer Stunde zuvor wurde plötzlich fragwürdig.
»Kann ich jetzt reinkommen oder nicht? Ich möchte das nicht hier draußen machen.«
Sie zögerte wieder, doch dann wich sie zurück und winkte ihn nach drinnen. Sie gingen ins Wohnzimmer, das rechts von der Diele lag. Es war ein großer dunkler Raum mit Kirschbaumparkett und fast fünf Meter hoher Decke. Wo seine Ledercouch gestanden hatte, war eine leere Stelle – sie war das einzige Möbelstück, das er mitgenommen hatte. Ansonsten war der Raum wie immer. Eine Wand nahm ein riesiges bis zur Decke reichendes Bücherregal mit doppelt tiefen Borden ein. Die meisten waren voll mit ihren Büchern, zwei Reihen auf jedem. Sie stellte in dieses Regal nur Bücher, die sie gelesen hatte, und sie hatte eine Menge gelesen. Eins der Dinge, die Pierce am meisten an ihr gemocht hatte, war, dass sie die Abende lieber mit einem Buch und einem Teller mit Erdnussbutter- und Marmeladebroten auf der Couch verbrachte, als ins Kino und hinterher zum Chinesen zu gehen. Es war auch eins der Dinge, die er ausgenutzt hatte. Um ein Buch zu lesen, brauchte sie ihn nicht, und das hatte es ihm einfacher gemacht, diese zusätzliche Stunde länger im Labor zu bleiben. Oder diese zusätzlichen Stunden, wie es häufiger der Fall gewesen war.
»Geht’s dir wieder einigermaßen?«, fragte sie, um eine gewisse Herzlichkeit bemüht. »Du siehst jedenfalls deutlich besser aus.«
»Es geht mir gut.«
»Wie lief’s mit Maurice Goddard?«
»Gut. Woher weißt du davon?«
Sie setzte eine verständnislose Miene auf.
»Weil ich bis Freitag in der Firma war und der Termin für die Präsentation lange vorher feststand. Weißt du das nicht mehr?«
Er nickte. Sie hatte Recht. Daran war nichts verdächtig.
»Das hatte ich vergessen.«
»Steigt er ein?«
»Sieht so aus.«
Sie setzte sich nicht. Sie stand mitten im Raum und sah ihn an. Das Bücherregal ragte festungsgleich hinter ihr auf, ließ sie winzig erscheinen, jedes Buch ein stummer Vorwurf, jedes von ihnen eine Nacht, die er nicht zu ihr nach Hause gekommen war. Sie schüchterten ihn ein, aber er durfte sich in seinem Zorn nicht beirren lassen.
»Okay, Henry, du bist hier. Ich bin hier. Worum geht es?«
Er nickte. Der Moment war gekommen. Im Augenblick hatte er tatsächlich keinen Plan. Er improvisierte.
»Es geht um Folgendes: Auch wenn es so, wie die Dinge stehen, vermutlich keine große Rolle mehr spielt, hätte ich trotzdem gern Klarheit, damit ich vielleicht ein bisschen leichter damit leben kann. Sag mir nur eins, Nicki: Hat jemand Druck auf dich ausgeübt, dir gedroht? Oder hast du mich aus freien Stücken verraten und verkauft?«
Ihr Mund bildete einen perfekten Kreis. Pierce hatte drei Jahre mit ihr zusammengelebt und glaubte, jeden Gesichtsausdruck von ihr zu kennen. Er bezweifelte, dass sie eine Miene aufsetzen könnte, die er noch nicht an ihr gesehen hatte. Und diesen perfekten Kreis von einem Mund hatte er schon gesehen. Aber er war nicht Ausdruck ihrer Bestürzung, durchschaut worden zu sein. Es war Verständnislosigkeit.
»Henry, wovon redest du da eigentlich?«
Es war zu spät. Er konnte nicht mehr zurück.
»Du weißt genau, wovon ich rede. Du hast mich reingelegt. Und ich will wissen, warum, und ich will wissen, für wen.
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