Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
annähernd aus der Gefahrenzone. Die Gefriertruhe woanders hingebracht zu haben war etwa so, als machte man ein Heftpflaster auf eine Schusswunde. Er musste herausfinden, was mit ihm geschah und warum. Er musste sich einen Plan ausdenken, der ihm das Leben rettete.
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Sein unmittelbares Bedürfnis war, sich in derselben Haltung wie die Leiche in der Gefriertruhe auf dem Boden zusammenzukrümmen, aber ihm war klar, dass es sein sicherer Untergang wäre, wenn er unter dem derzeitigen Druck zusammenbrach. Als er die Tür seiner Wohnung aufschloss und nach drinnen ging, zitterte er vor Angst und Wut. Er war ganz auf sich allein gestellt, um einen Weg aus diesem dunklen Tunnel zu finden. Er nahm sich fest vor, wieder vom Boden hochzukommen. Er würde aufstehen und kämpfen.
Wie um seinen Entschluss zu unterstreichen, ballte er die Rechte zur Faust und holte zu einem Schlag gegen die fünf Tage alte Stehlampe aus, die Monica Purl bestellt und neben der Couch aufgestellt hatte. Sie flog gegen die Wand, wo ihr empfindlicher beigefarbener Schirm zerknickte und die Birne zerbrach. Dann glitt sie wie ein angeschlagener Boxer an der Wand zu Boden.
»Verdammt noch mal!«
Er setzte sich auf die Couch, stand aber sofort wieder auf. Er war total geladen. Er hatte gerade eine Leiche versteckt – ein Mordopfer. Irgendwie kam es ihm vollkommen idiotisch vor, sich zu setzen.
Aber er musste es tun. Er musste sich setzen und sich damit befassen. Er musste wie ein Wissenschaftler denken, nicht wie ein Polizist. Polizisten bewegten sich auf einem linearen Feld. Sie gingen von Anhaltspunkt zu Anhaltspunkt und setzten dann das Bild zusammen. Aber manchmal fügten sich die Anhaltspunkte zu einem falschen Bild zusammen.
Pierce war Wissenschaftler. Er musste sich an das halten, was ihm schon immer zugute gekommen war. Er musste es so anpacken, wie er die Sache mit dem durchsuchten Auto angepackt und gelöst hatte. Von unten. Die logischen Überschneidungen finden, die Stellen, an denen sich die Drähte kreuzten. Das Gehäuse auseinander nehmen und die Konstruktion studieren, den Aufbau. Lineares Denken über Bord werfen und sich dem Problem aus völlig neuen Blickwinkeln nähern. Sich die Sache ansehen und sie dann drehen und wieder ansehen. Sie zu Pulver zermahlen und unter der Lupe betrachten. Das Leben war ein unter nicht kontrollierten Bedingungen durchgeführtes Experiment. Es war eine lange chemische Reaktion, die ebenso unvorhersehbar war, wie sie lebendig war. Aber mit diesem Komplott verhielt es sich anders. Es hatte unter kontrollierten Bedingungen stattgefunden. Die Reaktionen waren vorhersehbar und erwartet. Das war der Schlüssel. Es hieß, es war etwas, was man auseinander nehmen konnte.
Er nahm den Notizblock aus seinem Rucksack und machte sich bereit zum Schreiben, bereit zum Angriff. Der erste Gegenstand, mit dem er sich auseinander setzte, war Wentz. Ein Mann, dem er bis zu dem Tag, an dem er von ihm überfallen worden war, nie begegnet war. Ein Mann, bei dem auf den ersten Blick alle Fäden des Komplotts zusammenzulaufen schienen. Die Frage war, warum wollte Wentz ausgerechnet ihm, Pierce, einen Mord anhängen?
Nachdem er es ein paar Minuten lang gedreht und gewendet, zu Pulver zermahlen und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet hatte, gelangte Pierce zu ein paar elementaren Schlussfolgerungen.
Folgerung eins: Wentz hatte sich Pierce nicht ausgesucht. Es gab keine logische Verknüpfung oder Verbindung, die diesen Schluss zuließ. Auch wenn jetzt Animositäten bestanden, waren sich die zwei Männer erst begegnet, nachdem das Komplott längst seinen Lauf genommen hatte. Was das anging, war sich Pierce ganz sicher. Und diese Folgerung führte wiederum zu dem Schluss, dass Pierce von jemand anderem als Wentz für Wentz ausgesucht worden sein musste.
Folgerung zwei: Hinter dem Komplott steckte eine dritte Partei. Wentz und sein Gorilla, den er Zwei-Meter nannte, waren nur Handlanger. Sie waren Rädchen im Räderwerk des Komplotts. Hinter dem Ganzen steckte jemand anderer.
Die dritte Partei.
Darüber dachte Pierce als Nächstes nach. Was brauchte die dritte Partei, um das Komplott genau wie geplant ablaufen lassen zu können? Das Szenario war höchst kompliziert und basierte auf der Vorhersehbarkeit von Pierces Reaktionen innerhalb einer fließenden Umgebung. Unter kontrollierten Bedingungen ließen sich die Reaktionen von Molekülen genau vorhersagen. Und wie verhielt es
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