Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
Pierce kannte, der ihm in Sachen Paranoia in nichts nachstand. Möglicherweise war es das, was sie in Stanford so eng zusammengeschweißt hatte. Er erinnerte sich, dass Zeller in ihrem ersten Studienjahr immer wieder die Theorie geäußert hatte, Präsident Reagan sei nach dem Mordanschlag im ersten Jahr seiner Präsidentschaft ins Koma gefallen und durch einen Doppelgänger ersetzt worden, der eine Marionette der extremen Rechten war. Die Theorie hatte immer für Gelächter gesorgt, aber Zeller war es vollkommen ernst damit gewesen.
»Dr. Seltsam, wie ich annehme«, sagte Zeller.
»Mein Führer, ich kann gehen«, antwortete Pierce.
Das war seit ihrer Zeit in Stanford ihre Standardbegrüßung, nachdem sie sich den Film in San Francisco anlässlich einer Kubrick-Retrospektive gemeinsam angesehen hatten.
Sie gaben sich den Händedruck, den sich der lose Freundeskreis, dem sie auf dem College angehört hatten, ausgedacht hatte. Nach Ross MacDonalds Roman über jugendliche Aussteiger, die an Kaliforniens Stränden surften, hatte sich ihre Clique die ›Doomsters‹ genannt. Bei dem Händedruck verhakte man die Finger wie Eisenbahnkupplungen ineinander und drückte dann dreimal kurz zu, als hätte man beim Blutspenden einen Gummiball in der Hand – um sich Bier, Marihuana und Computersoftware kaufen zu können, hatten die Doomsters auf dem College regelmäßig Blut gespendet.
Pierce hatte Zeller mehrere Monate nicht mehr gesehen, und er hatte sich seitdem nicht mehr die Haare schneiden lassen. Sonnengebleicht und ungekämmt, waren sie im Nacken lose zusammengebunden. Er trug ein Zuma Jay-T-Shirt, Baggies und Ledersandalen. Seine Haut hatte den Kupferton versmogter Sonnenuntergänge. Von allen Doomstern hatte immer er den Look gehabt, den die anderen gern gehabt hätten. Inzwischen war er allerdings etwas über dieses Alter hinaus. Mit fünfunddreißig begann er allmählich wie ein alternder Surfer auszusehen, der es nicht lassen konnte, und das machte ihn Pierce nur noch sympathischer. Pierce fand sich selbst in vieler Hinsicht angepasst und bewunderte Zeller wegen des Wegs, den er im Leben eingeschlagen hatte.
»Sieh mal einer an, Dr. Seltsam lässt sich höchstpersönlich im Big Bad ’Bu blicken. Mann, du hast deinen Neoprenanzug nicht dabei, und ein Board sehe ich auch nicht, welchem Umstand habe ich also dieses unerwartete Vergnügen zu verdanken?«
Er winkte Pierce nach drinnen, und sie betraten ein geräumiges Haus im Loftstil, das in einen Wohnbereich auf der rechten und einen Arbeitsbereich auf der linken Seite aufgeteilt war. Hinter diesen getrennten Bereichen war ein riesiges Panoramafenster, das sich auf die Terrasse und das Meer dahinter öffnete. Das stete Stampfen der Wellen war der Herzschlag des Hauses. Zeller hatte Pierce einmal erzählt, es sei unmöglich, in dem Haus ohne Ohrstöpsel und einem Kissen über dem Kopf zu schlafen.
»Ich hatte einfach Lust, einen Ausflug zu machen und mich hier ein bisschen umzusehen.«
Sie gingen über den Buchenparkettboden zum Fenster. In einem Haus wie diesem war das ein automatischer Reflex. Man wurde angezogen von dem Blick, dem blauschwarzen Wasser des Pazifiks. Draußen am Horizont sah Pierce leichten Dunst, aber nicht ein einziges Boot. Als sie näher ans Fenster kamen, konnte er durch das Geländer der Terrasse die Brecher anrollen sehen. Eine kleine Gruppe von Surfern in bunten Neoprenanzügen saßen auf ihren Boards und warteten den richtigen Augenblick ab. Pierce spürte ein Ziehen in seinem Innern. Es war lange her, dass er das letzte Mal da draußen gewesen war. Er hatte das Warten auf den Swell und die Kameradschaft unter den Surfern immer befriedigender gefunden als den eigentlichen Ritt auf der Welle.
»Das sind meine Jungs da draußen«, sagte Zeller.
»Sie sehen aus wie Kids von der Malibu High.«
»Sind sie auch. Und ich auch.«
Pierce nickte. Fühl dich jung, bleib jung – in Malibu eine weit verbreitete Lebenseinstellung.
»Ich bin immer wieder überrascht, wie schön du es hier draußen hast, Code.«
»Für jemanden, der das Studium geschmissen hat, kann ich nicht klagen. Jedenfalls zehnmal besser, als für fünfundzwanzig Lappen pro Beutel die Reinheit seiner Essenz zu verkaufen.«
Er meinte Blutplasma. Pierce wandte sich vom Fenster ab. Im Wohnbereich waren zusammenpassende graue Sofas und ein Beistelltisch vor einem frei stehenden Kamin mit nüchterner Betonoberfläche. Dahinter war die Küche. Links befand sich der
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