Jack McEvoy 05 - Unbekannt verzogen
denken Sie, was Ihrer Schwester passiert ist, wäre Ihre Schuld?«
»Weil ich sie nicht gefunden habe. Wir haben nächtelang nach ihr gesucht, aber ich habe sie nicht gefunden. Wenn ich bloß …«
Er sagte es ohne Überzeugung und Nachdruck. Denn es war eine Lüge. Die Wahrheit würde er dieser Frau, die er weniger als eine Stunde kannte, nicht sagen.
Langwiser machte den Eindruck, als wollte sie der Sache weiter nachgehen, aber sie schien auch zu spüren, dass sie eine persönliche Grenze von ihm bereits zu weit dehnte.
»Okay, Henry. Ich glaube, das erklärt einiges – sowohl Ihr Verhalten in Hinblick auf Lilly Quinlans Verschwinden als auch Ihre Äußerung gegenüber Renner.«
Er nickte.
»Das mit Ihrer Schwester tut mir Leid. In meinem alten Job war der Umgang mit den Familien der Opfer das Schwierigste. In Ihrem Fall konnte zumindest ein gewisser Schlussstrich gezogen werden. Der Mann, der es gewesen ist, hat eindeutig bekommen, was er verdient hat.«
Pierce versuchte ein sarkastisches Lächeln, aber es schmerzte zu stark.
»Ja, ein Schlussstrich. Macht alles besser.«
»Lebt Ihr Stiefvater noch? Ihre Eltern?«
»Mein Stiefvater ja. Zumindest so weit ich weiß. Ich habe keinen Kontakt zu ihm, schon lange nicht mehr. Meine Mutter ist nicht mehr mit ihm zusammen. Sie lebt immer noch im Valley. Auch mit ihr habe ich schon lange keinen Kontakt mehr.«
»Wo ist Ihr Vater?«
»In Oregon. Er hat eine zweite Familie. Mit ihm stehe ich noch in Verbindung. Er ist von allen der Einzige, mit dem ich noch Kontakt habe.«
Sie nickte. Sie studierte ziemlich lange ihre Notizen und blätterte die Seiten des Blocks zurück, um noch einmal zu rekapitulieren, was er seit dem Beginn ihres Gesprächs gesagt hatte. Schließlich blickte sie zu ihm auf.
»Also, ich glaube, das ist alles Bluff.«
Pierce schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe Ihnen alles genau so geschildert, wie es pass–«
»Nein, ich meine Renner. Ich glaube, dass er nur blufft. Er hat nichts gegen Sie in der Hand. Er wird Sie auch nicht wegen der geringfügigeren Straftaten anzeigen. Damit würde er sich bei der Staatsanwaltschaft nur lächerlich machen. Mit welcher Absicht sind Sie eingebrochen? Um etwas zu stehlen? Nein, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts zugestoßen war. Von der Post, die Sie entwendet haben, wissen sie nichts, und beweisen können Sie es ohnehin nicht, weil sie weg ist. Das mit der Behinderung ist nur eine leere Drohung. Es ist ganz normal, dass die Leute die Polizei belügen oder etwas verschweigen. Davon gehen sie stillschweigend aus. Jemanden wegen so etwas gerichtlich belangen zu wollen ist eine Sache für sich. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der Zeit, als ich für die Staatsanwaltschaft gearbeitet habe, ein Fall von Behinderung zur Verhandlung gekommen ist.«
»Was ist mit dem Tonband? Ich war nicht ganz klar im Kopf. Er hat gesagt, was ich gesagt habe, wäre ein Eingeständnis.«
»Das war eine List. Er wollte Sie damit nur aus der Fassung bringen, um zu sehen, wie Sie darauf reagieren, und Ihnen vielleicht ein belastenderes Geständnis zu entlocken. Um das verbindlich beurteilen zu können, müsste ich mir diesen Teil des Gesprächs erst anhören, aber an sich hört sich das Ganze ziemlich irrelevant an; Ihre Erklärung, dass Sie damit Ihre Schwester gemeint haben, ist auf jeden Fall vollkommen plausibel und würde auch von einem Schwurgericht so aufgefasst. Berücksichtigen Sie dabei außerdem noch, dass Sie unter dem Einfluss einer ganzen Reihe von Medikamenten gestanden haben, dann sind Sie –«
»Es darf unter keinen Umständen zu einem Prozess kommen. Andernfalls bin ich erledigt. Ruiniert.«
»Das ist mir durchaus klar. Dennoch sollte man das Ganze durch die Brille der Geschworenen betrachten, denn so wird es auch die Staatsanwaltschaft sehen, wenn sie eine Anklageerhebung in Betracht zieht. Auf keinen Fall wird die Staatsanwaltschaft nämlich einen Fall zur Verhandlung bringen, bei dem von vornherein feststeht, dass die Geschworenen ihn nicht akzeptieren werden.«
»Was sollten sie denn auch akzeptieren? Ich war es nicht. Ich habe nur herauszufinden versucht, ob ihr nichts zugestoßen ist. Mehr nicht.«
Langwiser nickte, schien aber an seinen Unschuldsbeteuerungen nicht sonderlich interessiert. Pierce hatte schon des öfteren gehört, dass sich gute Strafverteidiger nie so sehr für die Hauptfrage ihrer Mandanten interessierten wie für ihre Verteidigungsstrategie. Ihnen ging es um das Gesetz,
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