Jack Reacher 01: Größenwahn
sagte ich. »Es sind Eigentumswohnungen, keine Mietwohnungen. Sie sehen teuer aus. Kann sich ein Lkw-Fahrer so etwas leisten?«
»Das bezweifle ich. Diese kosten wahrscheinlich soviel wie mein Haus, und ich könnte es ohne die Unterstützung der Stiftung nicht bezahlen. Und soviel ist sicher: Ich verdiene mehr als jeder Lkw-Fahrer.«
»Okay«, sagte ich. »Also lautet unsere Vermutung, daß der gute, alte Sherman ebenfalls eine Art Unterstützung bekam, richtig? Sonst hätte er es sich nicht leisten können, hier zu wohnen.«
»Sicher«, sagte sie. »Aber was für eine Unterstützung war das?«
»Eine Unterstützung, die Leute tötet«, erwiderte ich.
Stollers Haus lag weiter hinten. War wahrscheinlich in der ersten Bauphase errichtet worden. Der alte Mann im ärmeren Stadtteil hatte gesagt, daß sein Sohn vor zwei Jahren ausgezogen war. Das konnte stimmen. Dieser erste Wohnblock war ungefähr zwei Jahre alt. Wir gingen über Fußwege an erhöhten Blumenbeeten vorbei. Über einen Pfad zu Sherman Stollers Haustür. Der Pfad bestand aus Steinen, die auf einem struppigen Rasen gelegt worden waren. Er zwang einem eine unnatürliche Gangart auf. Ich mußte kleine Schritte machen. Roscoe mußte sich von einer Steinplatte zur nächsten strecken. Wir kamen zur Tür. Sie war blau. Nicht glänzend. Altmodische Farbe.
»Werden wir es ihr sagen?« fragte ich.
»Das müssen wir doch wohl«, sagte Roscoe. »Sie hat ein Recht darauf.«
Ich klopfte an die Tür. Wartete. Klopfte wieder. Ich hörte, wie drinnen der Boden knackte. Jemand kam. Die Tür öffnete sich. Eine Frau stand im Rahmen. Vielleicht dreißig, aber sie wirkte älter. Klein, nervös, müde. Blondgefärbte Haare. Sie sah zu uns heraus.
»Wir kommen von der Polizei, Ma'am«, sagte Roscoe. »Wir suchen nach dem Haus von Sherman Stoller.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Tja, ich schätze, Sie haben es gefunden«, sagte die Frau.
»Können wir reinkommen?« fragte Roscoe. Behutsam.
Wieder Schweigen. Keine Bewegung. Dann drehte sich die blonde Frau um und ging den Flur hinunter. Roscoe und ich sahen einander an. Roscoe folgte der Frau. Ich folgte Roscoe und schloß die Tür hinter uns.
Die Frau führte uns in ein Wohnzimmer. Ein ziemlich großer Raum. Teure Möbel und Teppiche. Ein großer Fernseher. Keine Stereoanlage, keine Bücher. Es sah alles ein wenig halbherzig aus. Als hätte es jemand in zwanzig Minuten mit einem Katalog und zehntausend Dollar eingerichtet. Eins davon, eins davon und zwei davon. Alles an einem Morgen geliefert und einfach hier abgestellt.
»Sind Sie Mrs. Stoller?« fragte Roscoe. Immer noch behutsam.
»Mehr oder weniger«, antwortete die Frau. »Nicht ganz, aber fast, also macht es eh keinen Unterschied.«
»Ist Ihr Name Judy?«
Sie nickte. Nickte eine ganze Weile. Dachte nach.
»Er ist tot, nicht wahr?« fragte Judy.
Ich antwortete nicht. In diesen Dingen bin ich nicht gut. Dies war Roscoes Part. Sie sagte auch nichts.
»Er ist tot, nicht wahr?« fragte Judy noch einmal, diesmal lauter.
»Ja, das ist er«, erwiderte Roscoe. »Es tut mir sehr leid.«
Judy nickte vor sich hin und sah sich in dem scheußlichen Zimmer um. Niemand von uns sprach. Wir standen einfach nur da. Judy setzte sich. Sie bedeutete uns, ebenfalls Platz zu nehmen. Wir setzten uns, auf zwei Sessel. Wir saßen in einem sauberen Dreieck.
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Roscoe. Sie saß auf der Kante des Sessels und lehnte sich zu der blonden Frau vor. »Ist das möglich?«
Judy nickte. Sah ziemlich ausdruckslos aus.
»Wie lange kannten Sie Sherman?«
»Ungefähr vier Jahre, schätze ich«, sagte Judy. »Ich habe ihn in Florida kennengelernt, wo ich lebte. Ich kam vor vier Jahren hierher, um bei ihm zu sein. Habe seitdem immer hier gelebt.«
»Was hatte Sherman für eine Arbeit?« fragte Roscoe.
Judy zuckte kläglich die Schultern.
»Er war Lkw-Fahrer«, sagte sie. »Er hatte irgend so einen großen Vertrag hier oben. Sollte für länger sein, verstehen Sie? Also kauften wir ein kleines Haus. Seine Eltern zogen mit ein. Wohnten eine Zeitlang bei uns. Dann zogen wir hierher. Überließen seinen Eltern das alte Haus. Er hat drei Jahre lang gutes Geld gemacht. Arbeitete die ganze Zeit. Dann war es plötzlich vorbei, vor einem Jahr. Er hat seitdem kaum noch gearbeitet. Nur Gelegenheitsjobs hier und da.«
»Gehört das Haus Ihnen beiden?« fragte Roscoe.
»Mir gehört überhaupt nichts. Sherman gehörten die Häuser.
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