Jack Reacher 01: Größenwahn
Wir öffneten das Fenster und ließen Luft und die Gerüche und Geräusche des Tages herein. Die Aussicht war überwältigend. Ging geradewegs über den Flughafen und die Innenstadt dahinter. Die Autos auf den Parkplätzen spiegelten das Sonnenlicht und sahen aus wie Juwelen auf beigefarbenem Samt. Die Flugzeuge bahnten sich ihren Weg in die Höhe und schwenkten langsam wie dicke, gewichtige Vögel außer Sicht. Die Gebäude in der Stadt ragten aufrecht und hoch in den Himmel. Ein herrlicher Morgen. Aber es war der sechste Morgen, den mein Bruder nicht mehr erlebte.
Roscoe rief vom Hotelzimmer aus Finlay in Margrave an. Sie erzählte ihm von dem Foto, auf dem Hubble und Stoller in der Sonne auf dem Vorhof des Lagerhauses standen. Dann gab sie ihm unsere Zimmernummer und bat ihn, uns anzurufen, wenn sich Molly aus Washington melden sollte. Oder wenn Picard irgendwelche Informationen der Mietwagenleute über den ausgebrannten Pontiac hätte. Ich fand es besser, in Atlanta zu bleiben, falls Picard Molly schlug und wir eine Spur von Joes Hotel hätten. Es war ziemlich wahrscheinlich, daß er in der Innenstadt, vielleicht in der Nähe des Flughafens, gewohnt hatte. Sinnlos, nach Margrave zu fahren und dann wieder nach Atlanta zurück zu müssen. Also warteten wir. Ich fummelte am Radio herum, das in den Nachttisch eingebaut war. Fand einen Sender, der was halbwegs Anständiges spielte. Hörte sich an wie ein frühes Album von Canned Heat. Ein munterer, fröhlicher Sound, gerade richtig an einem strahlenden, freien Morgen.
Das Frühstück kam, und wir aßen. Die ganze Palette. Pfannkuchen, Sirup, Schinken. Viel Kaffee in einer großen Porzellankanne. Danach legte ich mich wieder aufs Bett. Schon sehr bald stellte sich bei mir Unruhe ein. Ich bekam das Gefühl, als wäre es ein Fehler, zu warten. Ich hatte das Gefühl, nichts zu tun. Ich konnte sehen, daß es Roscoe ebenso ging. Sie hatte das Foto von Hubble, Stoller und dem gelben Lieferwagen auf den Nachttisch gelegt und starrte darauf. Ich starrte aufs Telefon. Es klingelte nicht. Wir liefen wartend im Zimmer herum. Dann bückte ich mich, um die Desert Eagle vom Boden zu nehmen. Wog sie in meiner Hand. Folgte mit einem Finger dem eingravierten Namen auf dem Griff. Sah zu Roscoe hinüber. Ich wollte etwas über den Mann wissen, der diese schwere Automatik gekauft hatte.
»Was war Gray für ein Mann?«
»Gray?« fragte sie. »Er war äußerst gründlich. Du willst Joes Unterlagen? Du solltest mal Grays Unterlagen sehen. Es gibt Akten über fünfundzwanzig Jahre im Revier, alle von ihm. Alle peinlich genau und umfassend. Gray war ein guter Detective.«
»Warum hat er sich dann aufgehängt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich habe es nie verstanden.«
»War er depressiv?«
»Nicht wirklich«, sagte sie. »Ich meine, er war immer irgendwie deprimiert. Trübsinnig, verstehst du? Ein sehr düsterer Mann. Und gelangweilt. Er war ein guter Detective, und an Margrave war er verschwendet. Aber im Februar war es nicht schlimmer als sonst. Es kam total überraschend für mich. Ich war ziemlich bestürzt.«
»Habt ihr euch nahegestanden?«
Sie zuckte die Schultern.
»Ja, irgendwie. Auf eine gewisse Weise standen wir uns sehr nahe. Er war ein düsterer Mensch, der niemandem wirklich nahestand. Nie verheiratet, immer allein gelebt, keine Verwandten. Er war Abstinenzler, also ging er nie mit jemandem ein Bier trinken. Er war still, schmuddelig und ein bißchen übergewichtig. Kahlköpfig, mit einem langen, ungepflegten Bart. Ein sehr selbstgenügsamer Mann. Ein echter Einzelgänger. Aber er stand mir so nahe, wie es für ihn überhaupt möglich war. Auf eine bestimmte Art mochten wir uns.«
»Und er hat nie etwas gesagt?« fragte ich sie. »Hat sich eines Tages einfach aufgehängt?«
»Genauso war es. Ein totaler Schock. Ich habe es nie verstanden.«
»Und wieso hast du seine Waffe in deinem Schreibtisch versteckt?«
»Er fragte mich, ob ich sie für ihn aufbewahren könne«, erwiderte sie. »Er hatte keinen Platz in seinem eigenen Schreibtisch. Er hat eine Menge Papierkram produziert. Er fragte mich einfach, ob ich eine Schachtel mit einer Waffe für ihn aufbewahren könne. Es war seine Privatwaffe. Er sagte, die bekäme er niemals vom Department genehmigt, weil das Kaliber zu groß sei. Er machte daraus ein großes Geheimnis.«
Ich legte die geheime Waffe des toten Mannes zurück auf den Teppich, dann wurde die Stille vom Klingeln des Telefons beendet. Ich rannte
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