Jack Reacher 01: Größenwahn
eine Frau an einem kleinen Schreibtisch. Wir gingen hinüber und klopften an das Glas. Sie blickte auf. Roscoe zeigte ihre Dienstmarke.
»Kann ich helfen?« fragte die Frau.
»Zimmer sechs-zwei-eins«, sagte Roscoe. »Sie haben ein paar persönliche Sachen ausgeräumt, Samstag morgen. Haben Sie die hier unten?«
Ich hielt wieder den Atem an.
»Sechs-zwei-eins?« wiederholte die Frau. »Er hat sie schon abgeholt. Sie sind weg.«
Ich atmete aus. Wir waren zu spät gekommen. Vor Enttäuschung erstarrte ich.
»Wer hat sie abgeholt?« fragte ich. »Und wann?«
»Der Gast«, sagte die Frau. »Heute morgen, vielleicht um neun, halb zehn.«
»Und wie hieß er?« fragte ich sie.
Die Frau zog ein kleines Buch aus einem Regal und öffnete es. Befeuchtete einen dicklichen Finger und zeigte auf eine Linie.
»Joe Reacher. Er hat hier unterschrieben und dann seine Sachen genommen.«
Sie drehte das Buch um und schob es zu uns herüber. Auf der Linie sah man eine hingekritzelte Unterschrift.
»Wie sah dieser Reacher aus?«
Sie zuckte die Schultern.
»Fremdländisch«, sagte sie. »Wie ein Latino. Vielleicht aus Kuba? Kleiner, dunkler Bursche, schlank, nettes Lächeln. Ein sehr höflicher Mann, soweit ich mich erinnere.«
»Haben Sie eine Liste von den Sachen?«
Sie fuhr mit dem dicklichen Finger an der Linie entlang. Bis zu einer schmalen Spalte. Verzeichnet waren eine Reisetasche, acht Kleidungsstücke, ein Kulturbeutel, zwei Paar Schuhe. Der letzte Punkt auf der Liste war eine Aktentasche.
Wir gingen und fanden die Treppe zurück in die Lobby. Liefen hinaus in die Morgensonne. Ich fand plötzlich nicht mehr, daß es ein großartiger Tag sei. Wir kamen beim Wagen an. Lehnten uns nebeneinander an den vorderen Kotflügel. Ich überlegte, ob Joe wohl klug und vorsichtig genug gewesen war, das zu tun, was ich getan hätte. Ich konnte mir das durchaus vorstellen. Er hatte eine lange Zeit mit klugen und vorsichtigen Leuten verbracht.
»Roscoe, wenn du dieser Typ wärst und mit Joes Sachen hier herauskämst, was würdest du tun?«
Sie ging langsam zur Wagentür. Dachte über meine Frage nach.
»Ich würde die Aktentasche behalten«, sagte sie. »Sie dorthin bringen, wohin ich sie bringen soll. Den Rest der Sachen würde ich loswerden wollen.«
»Das würde ich auch tun«, erwiderte ich. »Wo würdest du versuchen, sie loszuwerden?«
»Ich schätze, bei der ersten Gelegenheit.«
Es gab eine Zufahrt für Lieferanten zwischen Joes Hotel und dem nächsten. Sie führte im Bogen um die Hotels herum und dann auf die Umgehungsstraße. Auf einer Strecke von zwanzig Metern stand eine Reihe Müllcontainer. Ich zeigte darauf.
»Angenommen, er ist da hinausgefahren?« sagte ich. »Angenommen, er ist kurz stehengeblieben und hat die Reisetasche sofort in einen der Müllcontainer geworfen?«
»Aber er hat die Aktentasche behalten, richtig?« fragte Roscoe.
»Vielleicht suchen wir gar nicht die Aktentasche«, erwiderte ich. »Gestern bin ich meilenweit zu diesem Wäldchen gefahren, habe mich aber im Feld versteckt. Ein Ablenkungsmanöver, verstehst du? Das ist eine Angewohnheit von mir. Vielleicht hatte Joe dieselbe Angewohnheit. Vielleicht hat er die Aktentasche mitgebracht, aber seine wichtigen Sachen in der Reisetasche verstaut.«
Roscoe zuckte die Schultern. War nicht überzeugt. Wir gingen langsam die Lieferantenzufahrt hinunter. Von nahem waren die Müllcontainer riesig. Ich mußte mich auf ihren Rand hieven, um hineinsehen zu können. Der erste war leer. Außer dem festgeklebten Küchenabfall von Jahren war nichts darin. Der zweite war voll. Ich fand eine lange Holzlatte und stocherte damit in den Abfällen herum. Konnte nichts entdecken. Ich ließ mich wieder herunter und ging zur nächsten.
Ich fand eine Reisetasche. Sie lag kopfüber auf ein paar alten Kartons. Ich fischte mit der Latte nach ihr. Hob sie heraus. Warf sie vor Roscoes Füße, Sprang daneben. Es war eine vielbenutzte, ramponierte Reisetasche. Verkratzt und verschrammt. Zahlreiche Abzeichen von Fluggesellschaften daran. Ein kleines Namensschild in Form einer winzigen Goldcard war am Griff befestigt. Darauf stand eingraviert: Reacher.
»Okay, Joe«, sagte ich zu mir selbst. »Schauen wir mal, ob du ein schlauer Bursche warst.«
Ich sah nach den Schuhen. Sie waren in einer Außentasche. Zwei Paar. Genau wie es auf der Liste der Hauswirtschafterin gestanden hatte. Ich zog nacheinander die Innensohlen heraus. Unter der dritten fand ich einen winzigen Beutel
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