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Jack Reacher 01: Größenwahn

Jack Reacher 01: Größenwahn

Titel: Jack Reacher 01: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Blickte die beiden anderen achselzuckend an und ging mit dem alten Mann.
    Er führte mich in eine winzige Küche. Dort saß eine steinalte Frau auf einem Hocker. Hatte dieselbe mahagonifarbene Haut wie der alte Mann und war spindeldürr. Sie sah aus wie ein alter Baum im Winter.
    »Das ist meine Schwester«, sagte der alte Friseur. »Ihr Jungs habt sie mit eurem Gerede aufgeweckt.«
    Dann ging er zu ihr hinüber. Beugte sich hinunter und sprach ihr ins Ohr.
    »Hier ist der Junge, von dem ich dir erzählt habe.« Sie blickte auf und lächelte mich an. Es war, als würde die Sonne aufgehen. Ich bekam eine Ahnung davon, welch eine Schönheit sie vor langer Zeit gewesen sein mußte. Sie streckte ihre Hand aus, und ich ergriff sie. Sie fühlte sich an wie dünne Drähte in einem weichen, trockenen Handschuh. Der alte Friseur ließ uns in der Küche allein. Blieb stehen, als er an mir vorbeikam.
    »Frag sie nach ihm.«
    Der alte Mann schlurfte hinaus. Ich hatte immer noch die Hand der alten Lady in meiner. Ich hockte mich neben sie. Sie versuchte nicht, ihre Hand zurückzuziehen. Ließ sie einfach dort, einen braunen Zweig, der sich in meine riesige Pranke schmiegte.
    »Ich höre nicht mehr so gut«, sagte sie. »Du mußt näher kommen.«
    Ich sprach ihr direkt ins Ohr. Sie roch wie eine alte Blume. Wie eine verwelkte Blüte.
    »Wie ist das?« fragte ich.
    »Das ist gut, mein Sohn«, sagte sie. »So kann ich dich gut verstehen.«
    »Ich habe Ihren Bruder nach Blind Blake gefragt«, sagte ich.
    »Das weiß ich, mein Sohn«, erwiderte sie. »Er hat mir alles darüber erzählt.«
    »Er hat mir erzählt, Sie hätten Blind Blake gekannt«, sagte ich ihr ins Ohr.
    »Sicher kannte ich ihn«, behauptete sie. »Ich kannte ihn sehr gut.«
    »Wollen Sie mir etwas über ihn erzählen?«
    Sie wandte ihren Kopf um und sah mich traurig an.
    »Was gibt es da zu erzählen? Er ist vor sehr langer Zeit gestorben.«
    »Wie war er?«
    Sie sah mich immer noch an. Ihre Augen verschleierten sich, während sie sechzig, siebzig Jahre zurückdachte.
    »Er war blind«, sagte sie.
    Eine ganze Zeitlang schwieg sie. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, und ich konnte fühlen, wie der Puls in ihrem dürren Handgelenk pochte. Sie bewegte ihren Kopf, als versuchte sie, etwas aus der Ferne zu hören.
    »Er war blind«, sagte sie wieder. »Und er war ein süßer Kerl.«
    Sie war über neunzig. Sie war so alt wie das zwanzigste Jahrhundert. Sie erinnerte sich gerade an ihre zwanziger und dreißiger Jahre. Nicht an ihre Kindheit oder Jugend. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie in der Blüte ihrer Weiblichkeit stand. Und sie nannte Blake einen süßen Kerl.
    »Ich war eine Sängerin. Und er spielte Gitarre. Sie kennen doch diese alte Redewendung, daß er Gitarre spielte, daß man die Glocken hörte? Das pflegte ich über Blake zu sagen. Er nahm einfach sein altes Instrument, und die Töne stürzten schneller heraus, als man sie singen konnte. Aber jeder Ton war wie ein perfektes kleines Silberglöckchen, das in den Himmel tönte. Wir sangen und spielten oft die ganze Nacht, und am Morgen führte ich ihn auf eine Wiese, und wir saßen unter einem alten, schattigen Baum und sangen und spielten noch ein bißchen weiter. Nur so zum Spaß. Nur, weil ich singen konnte und er spielen.«
    Sie summte leise ein paar Takte vor sich hin. Ihre Stimme war ungefähr um eine Quinte tiefer, als man angenommen hätte. Sie war so dünn und zerbrechlich, daß man einen hohen, schwankenden Sopran erwartet hätte. Aber sie sang mit einem tiefen, rauchigen Alt. Ich dachte wie sie an die vergangenen Zeiten und sah die zwei auf einer Wiese im alten Georgia vor mir. Der schwere Geruch von Wildblumen, das Summen träger Insekten in der Mittagshitze, und die beiden saßen mit ihrem Rücken an einen Baum gelehnt und sangen und spielten nur so zum Spaß. Schmetterten die ironischen, aufsässigen Songs, die Blake geschaffen hatte und die ich so liebte.
    »Was geschah mit ihm? Wissen Sie das?«
    Sie nickte.
    »Nur zwei Menschen auf dieser Erde wissen das«, flüsterte sie. »Ich bin einer dieser Menschen.«
    »Wollen Sie es mir erzählen?« fragte ich. »Ich bin eigentlich hierhergekommen, um es herauszufinden.«
    »Zweiundsechzig Jahre«, sagte sie. »Ich habe zweiundsechzig Jahre lang keiner Menschenseele etwas davon erzählt.«
    »Wollen Sie es mir erzählen?« fragte ich sie noch einmal.
    Sie nickte. Traurig. Mit Tränen in ihren verschleierten alten Augen.
    »Zweiundsechzig Jahre«,

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