Jack Reacher 01: Größenwahn
ihn den Hügel hinauf zurück zur Stadt. Bog nach rechts in die Main Street ein und fuhr langsamer. Ich blickte nach rechts und links unter die schicken, gestreiften Markisen, suchte den Kleiderladen. Fand ihn drei Häuser hinter dem Friseurladen, Richtung Norden. Parkte den Bentley auf der Straße und ging hinein. Ich gab einem mürrischen Mann in mittleren Jahren ein paar Scheine von Charlie Hubbles Geld für eine Hose, ein Hemd und ein Jackett. In hellem Rehbraun, aus Baumwolle, so förmlich, wie es für mich nur ging. Keine Krawatte. Ich zog alles in der Umkleidekabine im hinteren Teil des Geschäfts an. Stopfte die alten Sachen in eine Tüte und warf sie im Vorübergehen in den Kofferraum des Bentley.
Ich ging die drei Häuser bis zum Friseurladen zurück. Der jüngere der beiden alten Männer wollte gerade zur Tür heraus. Er blieb stehen und legte eine Hand auf meinen Arm.
»Wie ist Ihr Name, mein Sohn?«
Es gab keinen Grund, ihn nicht zu nennen. Jedenfalls kannte ich keinen.
»Jack Reacher.«
»Haben Sie südamerikanische Freunde in der Stadt?«
»Nein«, sagte ich.
»Tja, dann haben Sie jetzt welche. Zwei Männer suchen überall nach Ihnen.«
Ich sah ihn an. Er suchte die Straße ab.
»Wer sind die beiden?«
»Ich habe sie vorher noch nie gesehen«, sagte der alte Mann. »Kleine Burschen, braunes Auto, grelle Hemden. Haben überall nach Jack Reacher gefragt. Wir haben ihnen gesagt, daß wir noch nie von einem Jack Reacher gehört hätten.«
»Wann war das?«
»Heute morgen, nach dem Frühstück.«
Ich nickte.
»Danke.«
Der Mann hielt die Tür für mich auf.
»Gehen Sie nur rein. Mein Partner wird sich um Sie kümmern. Aber er ist ein bißchen daneben heute morgen. Wird eben alt.«
»Danke! Man sieht sich.«
»Das hoffe ich doch, mein Sohn.«
Er schlenderte die Main Street hinunter, und ich ging in den Laden. Der ältere der beiden war dort. Der knorrige, alte Mann, dessen Schwester mit Blind Blake gesungen hatte. Keine anderen Kunden. Ich nickte dem Alten zu und setzte mich in seinen Sessel.
»Guten Morgen, mein Freund«, sagte er.
»Erinnern Sie sich an mich?«
»Na sicher«, sagte er. »Sie waren unser letzter Kunde. Seitdem war keiner mehr da, um mich durcheinanderzubringen.«
Ich bat ihn um eine Rasur, und er fing an, den Seifenschaum anzurühren.
»Ich war Ihr letzter Kunde?« fragte ich. »Das war am Sonntag. Heute ist Dienstag. Geht das Geschäft immer so schlecht?«
Der alte Mann hielt inne und gestikulierte mit dem Rasiermesser.
»Es geht schon seit Jahren so schlecht. Unser Bürgermeister Teale will nicht hierherkommen, und was unser Bürgermeister nicht will, wollen die anderen lieber auch nicht. Nur der alte Mr. Gray vom Polizeirevier kam so verläßlich wie ein Uhrwerk drei- bis viermal die Woche, bis er sich aufgehängt hat. Gott sei seiner Seele gnädig. Sie sind der erste Weiße hier seit dem letzten Februar, jawohl, Sir, soviel ist sicher.«
»Und warum will Teale nicht hierherkommen?«
»Der Mann hat ein Problem«, sagte der alte Mann. »Ich denke, er möchte hier nicht vollkommen eingehüllt in einem Handtuch sitzen, während ein Schwarzer mit einem Rasiermesser hinter ihm steht. Vielleicht hat er Angst, daß ihm etwas zustoßen könnte.«
»Könnte ihm denn etwas zustoßen?«
Er lachte kurz auf.
»Ich denke, es besteht ein ernstes Risiko«, sagte er. »Für das Arschloch.«
»Also haben Sie genügend schwarze Kunden, um Ihren Unterhalt zu verdienen?«
Er legte ein Handtuch um meine Schultern und fing an, den Seifenschaum aufzutragen.
»Mann, wir brauchen keine Kunden, um unseren Unterhalt zu verdienen.«
»Ach, und wieso nicht?«
»Wir haben doch das Gemeindegeld.«
»Ach ja?« sagte ich. »Und wieviel ist das?«
»Tausend Dollar.«
»Woher bekommen Sie die?«
Er fing an, mein Kinn abzuschaben. Seine Hand zitterte wie bei vielen alten Leuten.
»Von der Kliner-Stiftung«, flüsterte er. »Das Gemeindeprogramm. Es ist eine Subvention fürs Geschäft. Alle Geschäftsleute hier bekommen so was. Seit fünf Jahren.«
Ich nickte.
»Das ist gut«, sagte ich. »Aber tausend Dollar im Jahr, davon können Sie doch nicht leben. Es ist besser als nichts, aber Sie brauchen auch Kunden, oder nicht?«
Ich machte nur Konversation, wie man es beim Friseur eben so tut. Aber der alte Mann geriet ganz aus dem Häuschen. Er schüttelte sich und lachte gackernd. Hatte ziemliche Schwierigkeiten, meine Rasur zu beenden. Ich starrte ihn im Spiegel an. Nach der letzten
Weitere Kostenlose Bücher