Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Reacher sah kurz zu den vier Männern auf den Stühlen. Sie stellten ein Problem dar, mit dem er nicht gerechnet hatte.
»Was wollen Sie?«, fragte Rutter.
Reacher änderte seinen Plan. Er konnte sich denken, womit hier in Wirklichkeit gehandelt wurde und was dort unten im Keller lagerte.
»Ich brauche einen Schalldämpfer«, sagte er. »Für eine Steyr GB.«
Rutter grinste. Seine kleinen Augen funkelten amüsiert.
»Für mich wär’s illegal, Ihnen einen zu verkaufen, und für Sie illegal, einen zu besitzen.«
Der Tonfall, in dem er das herunterleierte, enthielt das Eingeständnis, dass er welche hatte und bereit war, sie zu verkaufen. Zugleich klang er leicht gönnerhaft, als wolle er sagen: Ich hab was, das du brauchst, also bin ich besser als du. Aber aus seiner Stimme sprach kein Misstrauen. Kein Verdacht, Reacher könnte ein Cop sein. Reacher wurde nie für einen Cop gehalten. Dafür war er zu groß und zu unangepasst. Er besaß weder die Großstadtblässe noch die Gerissenheit, die Leute unbewusst bei Cops voraussetzen. Seinetwegen machte Rutter sich keine Sorgen, aber er wusste nicht, was er von Jodie halten sollte. Als er mit Reacher sprach, sah er sie an. Sie erwiderte seinen Blick gelassen.
»Wen kümmert’s, was illegal ist?«, fragte sie verächtlich.
Rutter kratzte sich den Bart. »Das macht sie teuer.«
»Im Vergleich wozu?«, wollte sie wissen.
Reacher lächelte. Mit ihren zwei Bemerkungen - acht Wörtern - hatte sie Rutter noch mehr verunsichert. War sie eine reiche Mutter aus Manhattan, die fürchtete, ihre Kinder könnten entführt werden, die Ehefrau eines Multimillionärs, die ihn vorzeitig beerben wollte, oder die Frau eines Rotariers, die ein gefährliches Dreiecksverhältnis überleben wollte? Sie starrte ihn an wie eine Frau, die es gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen, ohne sich von etwas oder jemandem aufhalten zu lassen. Nicht von obskuren Gesetzen und ganz bestimmt nicht von einem schäbigen kleinen Waffenhändler in der Bronx.
»Steyr GB?«, fragte Rutter. »Sie wollen das Originalteil aus Österreich?«
Reacher nickte, als sei er für solche trivialen Dinge zuständig. Rutter schnalzte mit den Fingern. Einer der vier Dicken stand auf und stieg durch die Falltür in den Keller hinunter. Eine Weile später tauchte er mit einem in Ölpapier gewickelten schwarzen Zylinder wieder auf.
»Zweitausend Bucks«, sagte Rutter.
Reacher nickte. Dieser Preis war beinahe fair. Die Pistole wurde nicht mehr hergestellt, aber er schätzte, dass ihr letzter Ladenpreis bei acht- bis neunhundert Dollar gelegen hatte. Und der Schalldämpfer hatte im Einkauf wahrscheinlich über zweihundert Dollar gekostet. Zwei Riesen für ein zehn Jahre später und viertausend Meilen vom Fabriktor entfernt illegal verkauftes Teil waren kein Wucherpreis.
»Lassen Sie mal sehen«, sagte er.
Rutter wischte den öligen Zylinder an seinem Hosenboden ab. Hielt ihn Reacher hin, der seine Steyr aus der Tasche zog und den Schalldämpfer aufsetzte. Nicht wie im Film. Man hält die Pistole nicht in Augenhöhe, um den Schalldämpfer langsam und liebevoll aufzuschrauben. Man dreht ihn unter leichtem Druck nach rechts und lässt ihn wie ein Kameraobjektiv einrasten.
Der Schalldämpfer verbesserte die Waffe. Verbesserte ihre Gewichtsverteilung. Pistolenschüsse liegen in neunundneunzig von hundert Fällen zu hoch, weil der Rückstoß die Mündung in die Höhe reißt. Dem würde das Gewicht des Schalldämpfers entgegenwirken. Und da das Dämpferprinzip darauf basierte, dass der Gasstrahl verhältnismäßig langsam austrat, war der Rückstoß ohnehin schwächer.
»Funktioniert das Ding auch ordentlich?«, fragte Reacher.
»Klar doch«, sagte Rutter. »Es ist das Originalteil.«
Der Kerl, der den Schalldämpfer geholt hatte, saß wieder auf seinem Stuhl. Vier Männer, fünf Stühle. Will man eine Bande eliminieren, muss man als Erstes den Anführer erledigen. Diesen allgemein gültigen Grundsatz hatte Reacher schon als Vierjähriger beherzigt. Man bekommt heraus, wer der Anführer ist, und nimmt ihn sich als Ersten vor. Trotzdem war diese Situation anders. Rutter war der Anführer, aber er musste vorläufig unverletzt bleiben, weil Reacher ihn noch brauchte.
»Zweitausend Bucks«, wiederholte Rutter.
»Erst mal sehen«, sagte Reacher.
Die Steyr GB hat keine Sicherung. Beim ersten Abdrücken ist eine Fingerkraft von sechseinhalb Kilogramm notwendig, um zu verhindern, dass die Waffe versehentlich losgeht, weil
Weitere Kostenlose Bücher