Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
die Zahl der Vermissten durch unsere Arbeit verringern, nicht willkürlich erhöhen.«
»Können Sie’s nicht inoffiziell tun? In Ihrer Freizeit? Schließlich sind Sie hier der Chef, Nash. Bitte? Mir zu Gefallen?«
Newman schüttelte den Kopf. »Sie klammern sich an Strohhalme, das ist alles.«
»Bitte, Nash«, sagte Reacher.
Newman antwortete nicht gleich. Dann seufzte er.
»Verdammt noch mal«, sagte er, »für Sie tu ich’s.«
»Wann?«, fragte Reacher.
Newman zuckte mit den Schultern. »Morgen früh als Erstes, okay?«
»Rufen Sie mich an, sobald Sie fertig sind?«
»Klar, aber damit vergeuden wir nur unsere Zeit. Telefonnummer?«
»Nimm die vom Handy«, sagte Jodie.
Sie ratterte die Nummer herunter. Newman schrieb sie sich auf die Manschette seines Labormantels.
»Danke, Nash«, sagte Reacher. »Damit tun Sie mir wirklich einen großen Gefallen.«
»Zeitverschwendung«, erwiderte Newman.
»Wir müssen los!«, drängte Jodie.
Reacher nickte. Sie gingen zu der Stahltür in der Wand aus Hohlblocksteinen. Draußen auf dem Korridor wurden sie von Oberleutnant Simon erwartet, der sich erbot, Jodie und Reacher zum Flughafenterminal zu fahren.
15
Obwohl sie wieder erste Klasse flogen, empfand Reacher den Rückflug als trostlos. Dies war dasselbe Flugzeug wie auf dem Hinflug, das jetzt nach New York zurückkehrte. Man hatte es gereinigt und überprüft, betankt, mit Essen und Getränken beliefert und mit einer neuen Besatzung bestückt. Jodie und Reacher hatten dieselben Sitze. Reacher saß wieder am Gang, aber diesmal fühlte der breite Sessel sich anders an, und es machte ihm keinen Spaß mehr, darin zu sitzen.
Man hatte die Kabinenbeleuchtung gedämpft, weil es inzwischen Nacht war. Das Kabinenpersonal gab sich unaufdringlich zuvorkommend. Außer ihnen befand sich nur noch ein Passagier in der ersten Klasse, zwei Reihen vor ihnen auf der anderen Seite des Mittelgangs. Er war ein großer, hagerer Mann, der ein pastellfarben gestreiftes Hemd aus kreppähnlichem Baumwollgewebe mit kurzen Ärmeln trug. Sein rechter Arm ruhte auf der Sessellehne, und die Hand hing schlaff und entspannt herab. Seine Augen waren geschlossen.
»Wie groß ist er?«, flüsterte Jodie.
Reacher sah kurz nach vorn. »Etwas über einsachtzig.«
»Genau wie Victor Hobie«, sagte sie. »Du erinnerst dich an seine Akte?«
Reacher nickte. Sah zu dem auf der Sessellehne ruhenden Arm hinüber. Der Mann war hager, und er konnte im Halbdunkel den stark hervortretenden Knochen am Handgelenk sehen, die sommersprossige Haut und die von der Sonne ausgebleichten Haare. Auch die Speiche seines Unterarms war fast bis zum Ellbogen hinauf sichtbar. Hobie hatte fünfzehn Zentimeter seiner Speiche am Absturzort zurückgelassen. Reacher griff dieses Stück in Gedanken vom Handgelenk des Hageren beginnend nach oben ab. Nach fünfzehn Zentimetern war er halb am Ellbogen angelangt.
»Ungefähr halb und halb, stimmt’s?«, fragte Jodie.
»Etwas mehr als die Hälfte«, antwortete Reacher. »Die Ärzte haben den Stumpf bestimmt kürzen müssen. Ich denke, dass sie die Knochen bis dorthin abgefeilt haben, wo sie zersplittert waren. Falls er überlebt hat.«
Der Mann zwei Reihen vor ihnen bewegte sich und zog seinen Arm an den Körper, wo er nicht mehr zu sehen war, als wisse er, dass die beiden von ihm redeten.
»Er hat überlebt«, beharrte Jodie. »Er lebt und hält sich in New York versteckt.«
Reacher zuckte unglücklich mit den Schultern.
»Ich hätte gewettet, dass das nicht so ist.«
Jodie betrachtete ihn nachdenklich. »Warum stört dich das so sehr?«, fragte sie ruhig.
Er wich ihrem Blick aus und starrte auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihm.
»Das hat viele Gründe«, sagte er.
»Zum Beispiel?«
Er zuckte wieder mit den Schultern. »Ich habe mein fachmännisches Urteil abgegeben. Meine Intuition hat mir etwas gesagt, und nun sieht’s so aus, als hätte ich mich geirrt.«
Sie legte ihre Hand sanft auf seinen Arm, wo er über dem Handgelenk etwas schmaler wurde. »Sich mal zu irren, bedeutet nicht gleich das Ende der Welt.«
Er schüttelte den Kopf. »Manchmal nicht, manchmal schon. Hängt davon ab, worum es geht. Irgendwer fragt mich, wer die World Series gewinnen wird, und ich tippe auf die Yankees - das spielt keine Rolle, stimmt’s? Denn woher, zum Teufel, soll ich das als Laie wissen? Aber nehmen wir mal an, ich wäre ein Sportjournalist, der solche Dinge wissen müsste? Oder ein professioneller Glücksspieler? Und
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