Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
wird man high. Vielleicht hat er geglaubt, sie würden ihn sofort zurückschicken oder er würde für den Verlust seines Hubschraubers bestraft werden. Wir wissen einfach nicht, in welchem Geisteszustand er sich damals befunden hat. Jedenfalls ist er geflüchtet und hat dabei einen Krankenpfleger niedergeschlagen. Bestimmt war ihm später bei diesem Gedanken ganz schrecklich zumute. Er hält sich seit damals versteckt, weil er ein schlechtes Gewissen hat. In Wirklichkeit hätte er sich längst stellen sollen, weil er niemals verurteilt worden wäre. Aber er hat sich versteckt, und je länger er im Verborgenen gelebt hat, desto schlimmer ist alles geworden. Das Ganze war eine Art Schneeballeffekt.«
»Trotzdem habe ich Unrecht«, entgegnete Reacher. »Du hast gerade einen irrationalen Mann beschrieben. Ängstlich, unrealistisch, leicht hysterisch. Ich hatte ihn als pflichtbewusstes Arbeitstier eingeschätzt. Sehr nüchtern, sehr vernünftig, sehr normal. Das zeigt, wie sehr ich mich in ihm getäuscht habe.«
»Was hast du also vor?«, fragte Jodie.
»In welcher Beziehung?«
»In Bezug auf die Zukunft?«
Er zuckte erneut mit den Schultern. »Weiß ich nicht.«
»Was ist mit den Hobies?«
»Weiß ich nicht«, wiederholte er,
»Du solltest versuchen, ihn zu finden, denke ich«, sagte sie. »Ihn davon überzeugen, dass er jetzt keine Strafverfolgung mehr zu befürchten hat. Ihn zur Vernunft bringen. Vielleicht könntest du erreichen, dass er sich wieder bei seinen Eltern meldet.«
»Wie soll ich ihn finden? Im Augenblick kommt’s mir vor, als könnte ich nicht mal meine eigene Nase finden. Und du vergisst etwas anderes.«
»Was?«
»Er will nicht gefunden werden. Wie du ganz richtig vermutest, will er im Verborgenen leben. Selbst wenn er sich anfangs nur aus Verwirrung verkrochen hat, ist er später offenbar auf den Geschmack gekommen. Er hat Costello ermorden lassen, Jodie. Er hat seine Leute auf uns gehetzt. Damit er weiter versteckt leben kann.«
Eine Stewardess dimmte die Kabinenbeleuchtung noch weiter herunter, und Reacher kippte seinen Sitz nach hinten und versuchte zu schlafen, während sein letzter Gedanke ihn weiter beschäftigte: Victor Hobie hat Costello ermorden lassen, um versteckt leben zu können.
Dreißig Stockwerke über der Fifth Avenue wachte er kurz nach sechs Uhr morgens auf, die normale Zeit, je nachdem wie schlimm der Feuertraum gewesen war. Dreißig Jahre sind fast elftausend Tage, und zu elftausend Tagen gehören elftausend Nächte, und in jeder einzelnen dieser Nächte hatte er von dem Aufschlagbrand geträumt. Der Heckausleger brach ab, und die Kabine wurde von den Baumwipfeln herumgeschleudert. Beim Auseinanderbrechen der Maschine wurde der Treibstofftank leck. Treibstoff spritzte heraus. Er sah ihn Nacht für Nacht in grässlichem Zeitlupentempo herausspritzen. Der Treibstoff glänzte und schimmerte in der grauen Dschungelluft, während er sich zu großen Tropfen zusammenklumpte. Sie verdrehten sich und änderten ihre Form und wuchsen dabei wie langsam durch die Luft schwebende Lebewesen. Das Licht brach sich in ihnen und ließ sie fremdartig schön erscheinen. In den Tropfen waren Regenbogen zu sehen. Sie erreichten ihn, bevor das Rotorblatt seinen Arm traf. Jede Nacht drehte er mit genau derselben ruckartigen Bewegung den Kopf weg, aber sie erreichten ihn trotzdem. Sie klatschten ihm ins Gesicht. Die Flüssigkeit war warm. Das verwirrte ihn. Sie sah wie Wasser aus. Wasser sollte kalt sein. Er hätte erfrischende Kühle spüren sollen. Aber dieses Nass war warm. Es war klebrig. Dicker als Wasser. Es roch nach Chemie. Es klatschte auf seine linke Kopfseite. Es ließ sein Haar zusammenkleben. Es lief ihm langsam über die Stirn und ins Auge.
Dann sah er sich um und stellte fest, dass die Luft in Flammen stand. Sie verschlangen die in ihr schwebenden flüssigen Formen und ließen sie noch größer und feuriger werden. Und unabhängig voneinander gingen die einzelnen Tropfen in Flammen auf. Es gab keine Verbindung mehr. Keine Reihenfolge. Sie explodierten einfach. Er zog elftausendmal ruckartig den Kopf ein, aber das Feuer erfasste ihn jedes Mal. Es roch heiß, als verbrenne etwas, aber es fühlte sich kalt an. Ein plötzlicher eiskalter Schock, der sein Haar, seine linke Gesichtshälfte erfasste. Dann die schwarzen Umrisse des herabfallenden Rotorblatts. Es zerbrach an der Brust von Crew Chief Bamford, und ein großer Splitter der Vorderkante traf genau die Mitte seines
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