Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Unterarms.
Er sah, wie seine Hand abgetrennt wurde. Das beobachtete er in allen Einzelheiten. Dieser Teil gehörte nie zu seinem Traum, denn der handelte vom Feuer, und er brauchte nicht zu träumen, wie er seine Hand verlor, weil er sich daran erinnern konnte, es gesehen zu haben. Die Vorderkante des Rotorblatts wies ein schmales aerodynamisches Profil auf und war mattschwarz. Sie zertrennte die Knochen des Unterarms und blieb auf dem Oberschenkel liegen, weil ihre Energie bereits erschöpft war. Sein Unterarm zerbrach einfach in zwei Teile. Seine Armbanduhr befand sich noch am Handgelenk. Die Hand und das Handgelenk fielen zu Boden. Er hob den Stumpf seines Unterarms und berührte damit sein Gesicht, um herauszufinden, warum sich die Haut dort oben so kalt anfühlte, aber so verbrannt roch.
Irgendwann später, als er wieder klar denken konnte, erkannte er, dass diese Reaktion ihm das Leben gerettet hatte. Die heißen Flammen hatten seinen verwundeten Unterarm kauterisiert. Ihre Hitze hatte die Wunde versengt und die Arterien versiegelt. Hätte er damit nicht sein brennendes Gesicht berührt, wäre er verblutet. Das war ein Triumph. Selbst in äußerster Gefahr und Verwirrung hatte er das Richtige getan. Er hatte clever gehandelt. Er verstand sich darauf zu überleben. Das verlieh ihm eine Selbstsicherheit, die er nie mehr verlor.
Er blieb etwa zwanzig Minuten bei Bewusstsein. Er tat, was er im Cockpit zu tun hatte, und kroch dann vom Wrack der Huey weg. Er wusste, dass außer ihm niemand überlebt hatte. Er verschwand im Unterholz und arbeitete sich weiter vor. Er rutschte auf den Knien, wobei er sich mit seiner unverletzten Hand abstützte. Als er nicht mehr weiterkonnte, blieb er auf dem Bauch liegen, ließ den Kopf sinken und drückte sein verbranntes Gesicht in die feuchte Erde. Dann wurden die Schmerzen unerträglich. Er verlor das Bewusstsein.
An die folgenden drei Wochen erinnerte er sich kaum. Nicht, wohin er unterwegs war oder was er aß und trank. Zwischendurch hatte er lichte Momente, die schlimmer waren als die Zeiten des Nichterinnerns. Sein ganzer Körper war voller Blutegel. Die verbrannte Haut löste sich ab, und das Fleisch darunter stank nach Fäulnis. In seinem Armstumpf wimmelte es von Maden. Dann war er plötzlich in einem Feldlazarett. Eines Morgens wachte er, von einer Morphiumwolke getragen, auf und fühlte sich so gut wie nie zuvor in seinem Leben. Aber er tat so, als leide er weiter starke Schmerzen. So konnte er seine Verlegung nach Saigon immer wieder hinauszögern.
Die Ärzte behandelten sein verbranntes Gesicht. Sie säuberten seinen Armstumpf von den Maden. Jahre später wurde ihm klar, dass auch die Maden dazu beigetragen hatten, ihm das Leben zu retten. Er las einen Zeitungsbericht über neue medizinische Forschungsergebnisse. Eine revolutionäre Therapie setzte Maden gegen Wundbrand ein. Die unermüdlichen Fresser vertilgten das von Wundbrand befallene Fleisch, bevor Fäulnis einsetzen konnte. Erste Versuche waren erfolgreich gewesen. Er lächelte, als er das las. Er wusste Bescheid.
Die Zurückverlegung des Lazaretts kam überraschend. Niemand hatte ihm ein Wort davon gesagt. Er hörte nur zufällig, wie zwei Krankenpfleger sich über den für den nächsten Morgen geplanten Abtransport unterhielten. Ihm war klar, dass er sofort abhauen musste. Wachen gab es hier keine. Er begegnete nur einem Krankenpfleger, der sich zufällig am Stacheldrahtzaun herumtrieb. Dieser Mann kostete ihn eine wertvolle Flasche Wasser, die auf seinem Kopf zersplitterte, aber er konnte ihn nicht länger als ein paar Sekunden aufhalten.
Seine lange Heimreise begann mit dem ersten Schritt in den Dschungel außerhalb des Stacheldrahtzauns, der das Lazarett umgab. Als Erstes musste er sich sein Geld holen. Es lag fünf Tagesmärsche von hier entfernt in einem Geheimversteck außerhalb seines letzten Stützpunkts - in einem Sarg vergraben. Das mit dem Sarg - der einzige ausreichend große Behälter, den er hatte auftreiben können war ein glücklicher Zufall gewesen, der sich später als absoluter Geniestreich erweisen sollte. Das Geld, lauter Hunderter, Fünfziger, Zwanziger und Zehner, wog etwa fünfundsiebzig Kilo. Das richtige Gewicht für den Inhalt eines Sargs. Knapp zwei Millionen Dollar.
Der Stützpunkt war längst aufgegeben und lag jetzt weit hinter den feindlichen Linien. Aber er schaffte es, ihn zu erreichen, und stand dort vor dem ersten großen Problem. Wie gräbt ein kranker, einarmiger
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