Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Prothese ihm den Armstumpf wund und war lästig. Aber er lernte, mit ihr umzugehen, und kam mit der Zeit immer besser mit ihr zurecht. Als er dann seinen Sarg wieder ausgrub und eine Passage auf dem Trampfrachter nach San Francisco buchte, konnte er sich schon fast nicht mehr daran erinnern, jemals zwei Hände besessen zu haben. Aber sein Gesicht störte ihn weiterhin.
Er ging in Kalifornien an Land, erwarb einen gebrauchten Kombi und holte seinen Sarg aus einem der Lagerhäuser am Hafen. Zwei verängstigte Schauerleute luden ihn in seinen Wagen, und er fuhr damit quer durch Amerika bis nach New York City, wo er neunundzwanzig Jahre später noch immer lebte - mit dem Werk des Prothesenbauers aus Bangkok auf dem Fußboden neben seinem Bett, wo es sich in den vergangenen elftausend Nächten jede Nacht befunden hatte.
Er wälzte sich auf den Bauch, griff mit der linken Hand nach unten und hob die Prothese auf. Setzte sich im Bett auf, legte sie über die Knie und nahm die Babysocke vom Nachttisch. Zehn nach sechs Uhr morgens. Ein weiterer Tag in seinem Leben.
William Curry wachte um sechs Uhr fünfzehn auf. Das war eine alte Angewohnheit aus der Zeit, in der er als Kriminalbeamter für die Tagschicht eingeteilt gewesen war. Nach der Scheidung von seiner Frau und dem Tod seiner Großmutter war er als Nachmieter in deren Wohnung zwei Stockwerke über der Beckman Street eingezogen. Das Apartment war nichts Besonderes, aber billig, und er hatte es nicht weit zu den meisten Polizeirevieren südlich der Canal Street. Auch nach der Pensionierung war er dort geblieben. Von seiner Polizeipension konnte er gerade so die Miete und die laufenden Unkosten sowie die Miete für sein winziges Büro in der Fletcher Street bezahlen. Also mussten die Einnahmen seines noch neuen Detektivbüros für Essen, Kleidung und Unterhaltszahlungen reichen. Und sie sollten ihn sogar reich machen, wenn er erst mal etabliert und groß heraus gekommen war.
So früh am Morgen war es in der Wohnung angenehm kühl. Die benachbarten höheren Gebäude schirmten sie von der Morgensonne ab. Er stand auf und reckte sich. Ging zur Kochnische und schaltete die Kaffeemaschine ein. Verschwand dann im Bad, um zu duschen und sich zu rasieren. Dank dieser Routine war er immer pünktlich um sieben Uhr zum Dienst gekommen, also hatte er sie beibehalten.
Er trat mit dem Kaffeebecher in der Hand an den Kleiderschrank und begutachtete seinen Inhalt. Als Cop hatte er immer Sakko und Hose getragen. Graue Flanellhose, kariertes Sportsakko. Er bevorzugte Tweed, obwohl er eigentlich kein Ire war. Im Sommer versuchte er es mit Leinenjacken, aber sie knitterten zu leicht, sodass er sich für dünne Polyestermischgewebe entschied. Aber keine dieser Kombinationen war dafür geeignet, den erfolgreichen, teuren Anwalt David Forster zu spielen. Er würde seinen Hochzeitsanzug nehmen müssen. Ein schlichter Anzug, den er für feierliche Anlässe wie Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen angeschafft hatte. Der Anzug war fünfzehn Jahre alt, aber da er von Brooks Brothers stammte, sah er ziemlich zeitlos aus. Er saß etwas locker, denn seit er geschieden war, hatte er abgenommen. Die Hosenbeine waren nach heutiger Mode etwas weit, aber das schadete nichts, denn er wollte zwei Knöchelhalfter tragen. William Curry war ein Mann, der gern auf alles vorbereitet war. Die Sache müsste glatt und ohne Schwierigkeiten ablaufen, hatte David Forster gesagt. Und wenn das stimmte, sollte es ihm nur recht sein, aber ein Mann mit seiner Erfahrung neigte zur Vorsicht, wenn er so etwas hörte. Deshalb die beiden Knöchelhalfter und seine Magnum Kaliber 357 unter der Anzugjacke.
Er nahm den Anzug in dem Plastiksack, in dem er aus der Reinigung gekommen war, legte ein weißes Oberhemd und eine dezente Krawatte dazu und verstaute alles in einer Reisetasche. Das Halfter der Magnum, den breiten schwarzen Ledergürtel und die beiden Knöchelhalfter legte er obendrauf. Die drei Faustfeuerwaffen - die Pistole Kaliber 357 mit langem Lauf und die beiden kurzläufigen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 - kamen in seinen Aktenkoffer. Danach zählte er zwölf Schuss Munition für jede Waffe in eine Patronenschachtel, die er ebenfalls in den Aktenkoffer legte. Er stopfte jeweils eine schwarze Socke in seine schwarzen Schuhe und packte sie zu den Halftern. Umziehen würde er sich nach einem frühen Mittagessen. Es hatte keinen Zweck, die Klamotten den ganzen Vormittag zu tragen und dann ungepflegt und verschwitzt
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