Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
aufzukreuzen.
Er sperrte die Wohnungstür ab und ging mit seiner Tasche zu seinem Büro in der Fletcher Street. Unterwegs machte er nur einmal Halt, um sich einen Muffin zu besorgen: Banane und Walnuss, fettarm.
Marilyn Stone wachte kurz vor sieben mit verschwollenen Augen und todmüde auf. Chester und sie waren erst lange nach Mitternacht wieder in der Toilette eingesperrt worden. Der Raum hatte erst von dem stämmigen Kerl in dem dunklen Anzug geputzt werden müssen. Er war übel gelaunt herausgekommen und hatte sie warten lassen, bis der Boden trocken war. Tony hatte Marilyn gezwungen, Kissen aufzuschütteln. Sie vermutete, dass er hier übernachten wollte. Sich in ihrem kurzen Kleid übers Sofa beugen und sein Bett herrichten zu müssen, war eine Demütigung. Sie tat diese Arbeit widerwillig, während Tony sie grinsend beobachtete.
In der Toilette war es kalt und feucht, und es roch nach Desinfektionsmittel. Die Frotteetücher lagen gefaltet neben dem Waschbecken. Marilyn breitete sie zum Schlafen auf dem Boden aus. Aus dem Büro hinter der Tür drang kein Laut. Sie erwartete nicht, auch nur ein Auge zutun zu können. Trotzdem musste sie irgendwann eingeschlafen sein, denn als sie aufwachte, hatte sie das deutliche Gefühl, ein neuer Tag sei angebrochen.
Aus dem Büro drangen Geräusche. Sie hatte sich das Gesicht gewaschen und tupfte es vor dem Spiegel ab, als der stämmige Kerl ihnen Kaffee brachte. Sie nahm ihren Becher wortlos entgegen; den von Chester, der noch auf dem Fußboden lag - wach, passiv, bewegungslos -, stellte er auf die Spiegelablage. Dann stieg er achtlos über Chester hinweg und ging hinaus.
»Fast vorbei«, sagte sie aufmunternd.
»Es fängt erst an, meinst du«, murmelte Chester. »Wohin gehen wir, wenn wir hier rauskommen? Wo schlafen wir heute Nacht?«
Zu Hause, Gott sei Dank!, wollte sie sagen, aber dann erinnerte sie sich daran, dass er schon begriffen hatte, dass sie nach vierzehn Uhr dreißig kein Haus mehr besitzen würden.
»In einem Hotel, vermute ich«, erwiderte sie.
»Sie haben mir meine Kreditkarten weggenommen.«
Chester schien noch etwas sagen zu wollen, aber dann verstummte er.
Sie sah ihn forschend an. »Was?«
»Es ist nie vorbei«, sagte er. »Begreifst du das nicht? Wir sind Zeugen. Wir haben gesehen, was sie diesen Cops angetan haben. Und Sheryl. Wie können sie uns da einfach laufen lassen?«
Sie nickte, eine kleine, vage Kopfbewegung. Sie war enttäuscht, weil er endlich den Ernst ihrer Lage begriffen hatte. Nun würde er sich den ganzen Tag Sorgen machen und vor lauter Angst die Situation noch verschlimmern.
Es dauerte fünf Minuten, die Krawatte ordentlich zu binden. Dann schlüpfte er in sein Jackett. Das Anziehen verlief in genau umgekehrter Reihenfolge wie das Ausziehen, was bedeutete, dass die Schuhe zuletzt drankamen. Er konnte seine Schnürsenkel genauso schnell binden wie jemand mit zwei gesunden Händen. Der Trick bestand nur darin, das freie Ende unter dem Haken auf dem Fußboden festzuhalten.
Dann begann er im Bad. Er stopfte die schmutzige Wäsche in einen Kopfkissenbezug und stellte ihn neben die Wohnungstür. Zog das Bett ab, faltete die Bettwäsche zusammen und steckte sie in einen weiteren Kissenbezug. Warf alle Gegenstände aus seinem persönlichen Besitz in eine Supermarktplastiktüte. Packte den Inhalt seines Kleiderschranks in einen großen Rollenkoffer. Anschließend schaffte er die Kissenbezüge und die Plastiktüte zum Müllschlucker. Zog den Rollenkoffer auf den Korridor hinaus, sperrte die Wohnungstür zu und legte die Schlüssel in einen vorbereiteten Umschlag.
Er machte einen Umweg über die Eingangshalle, um dem Portier den Umschlag mit den Schlüsseln für den Immobilienmakler zu geben. Dann fuhr er mit dem Rollenkoffer in die Tiefgarage zu seinem Cadillac, wo er ihn im Kofferraum einschloss. Setzte sich ans Steuer und fuhr mit quietschenden Reifen durch die Tiefgarage nach draußen. Rollte auf der Fifth Avenue nach Süden und vermied es, den Blick von der Straße zu wenden, bis der Central Park hinter ihm lag und er in die belebten Wolkenkratzerschluchten Manhattans eintauchte.
In der Tiefgarage unter dem World Trade Center hatte er drei Stellplätze gemietet, aber der Suburban war beschlagnahmt und der Tahoe verkauft, sodass bei seiner Ankunft alle drei leer waren. Er stellte seinen Cadillac auf dem mittleren Platz ab und ließ den Rollenkoffer im Kofferraum. Später würde er mit dem Cadillac zum LaGuardia-Flughafen
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