Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
und schwenkte ihren Lauf willkürlich wie den Suchscheinwerfer eines Gefängnisses mal in die eine, mal in die andere Richtung. Hobie sah auf seine Armbanduhr, zählte die Minuten. Jodie beobachtete, wie die nun schon tiefer im Südwesten stehende Sonne durch die Lücken zwischen den senkrechten Lamellen der Jalousie schien, und nahm die leichten Vibrationen des Gebäudes wahr.
Dreimal fünf Minuten wären eine Viertelstunde gewesen, aber in Wirklichkeit vergingen mindestens zwanzig Minuten. Hobie lief auf und ab und sah ein Dutzend Mal auf die Uhr. Dann ging er in den Empfangsbereich hinaus, wohin ihm der Stämmige bis zur Bürotür folgte. Er hielt seine Waffe in den Raum gerichtet, aber sein Kopf war abgewandt, weil er seinen Boss beobachtete.
»Hat er vor, uns laufen zu lassen?«, flüsterte Curry
Jodie zog die Schultern hoch und bewegte den Kopf, um ein wenig ihren Nacken zu entlasten.
»Keine Ahnung«, antwortete sie flüsternd.
Marilyn hatte den Kopf auf die Unterarme gelegt. Sie sah auf und schüttelte ihn.
»Er hat zwei Cops umgebracht«, flüsterte sie. »Wir waren Zeugen.«
»Schluss mit dem Gequatsche!«, rief der Kerl von der Tür her.
Sie hörten wieder das Surren des Aufzugs. Kurz danach wurde die Korridortür geöffnet, und es drang Lärm aus dem Empfangsbereich. Erst Tonys, dann Hobies Stimme - vor Erleichterung lauter als gewöhnlich. Hobie kam mit einem weiß verpackten Paket ins Büro zurück und lächelte mit dem beweglichen Teil seines Gesichts. Er klemmte es sich unter den verbliebenen rechten Arm und riss es im Gehen mit der linken Hand auf. Jodie sah weitere Aktienurkunden mit altmodischen Guillochen in Stahlstich. Er ging um die Sofas herum zu seinem Schreibtisch und warf die neuen Aktien achtlos auf die dreihundert Stück, die dort bereits lagen. Stone folgte Tony ins Büro, als habe man ihn vergessen, und betrachtete das Lebenswerk seiner Vorfahren, das jetzt achtlos auf dem Schreibtisch herumlag. Marilyn sah auf, zog ihre Hände über die Glasplatte und setzte sich ruckartig auf, weil sie keine Kraft mehr in den Schultern hatte.
»Okay, jetzt haben Sie alle«, sagte sie ruhig. »Jetzt können Sie uns gehen lassen.«
Hobie lächelte ironisch. »Marilyn, sind Sie schwachsinnig oder was?«
Tony lachte. Jodie sah von ihm zu Hobie und erkannte, dass die beiden schon fast am Ende eines sehr langen Weges angelangt waren. Sie hatten sich irgendein Ziel gesteckt, das nun zum Greifen nahe war. Aus Tonys Lachen sprach Erleichterung nach Tagen voller Stress und Anspannung.
»Reacher ist weiter dort draußen«, sagte sie so gelassen, als ziehe sie eine Schachfigur.
Hobies Lächeln verschwand schlagartig. Er berührte seine Stirn mit dem Haken, rieb ihn über das Narbengewebe und nickte.
»Reacher«, sagte er. »Ja, das letzte Stück des Puzzles. Reacher dürfen wir nicht vergessen, nicht? Er ist weiter dort draußen. Aber wo genau dort draußen?«
Sie zögerte.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie.
Dann hob sie trotzig den Kopf.
»Aber er ist hier in New York. Und er findet Sie.«
Hobie erwiderte ihren Blick. Starrte sie mit verächtlicher Miene an.
»Soll das vielleicht eine Drohung sein?«, knurrte er. »Tatsächlich will ich, dass er mich findet. Weil er etwas hat, das ich brauche. Etwas sehr Wichtiges. Seien Sie mir also behilflich, Mrs. Jacob. Rufen Sie ihn an, und laden Sie ihn hierher ein.«
Sie antwortete nicht gleich.
»Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte sie dann.
»Versuchen Sie’s mit Ihrer Wohnung«, schlug Hobie vor. »Wir wissen, dass er dort übernachtet hat. Ihr Flugzeug ist um zehn vor zwölf gelandet, nicht? Wahrscheinlich hält er sich auch jetzt dort auf.«
Sie starrte ihn an. Er nickte selbstgefällig.
»Solche Dinge überprüfen wir. Für uns arbeitet ein Mann namens Simon, den Sie meines Wissens kennen gelernt haben. Er hat Sie in die Maschine gesetzt, die um neunzehn Uhr in Honolulu abfliegt, und wir haben den JFK Airport angerufen und die Auskunft erhalten, dass Sie um elf Uhr fünfzig gelandet sind. Reacher war in Hawaii ganz durcheinander, hat uns Simon berichtet, also dürfte er das auch weiter sein. Und natürlich müde. Genau wie Sie. Sie sehen müde aus, Mrs. Jacob. Aber Ihr Freund Jack Reacher liegt vermutlich im Bett und schläft, während Sie sich hier mit uns amüsieren. Rufen Sie ihn also an, laden Sie ihn ein, Ihnen hier Gesellschaft zu leisten.«
Sie starrte den Couchtisch an. Schwieg.
»Rufen Sie ihn an. Dann können Sie ihn noch
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