Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
einmal sehen, bevor Sie sterben.«
Sie schwieg, starrte die von ihren Händen verschmierte Glasplatte an. Sie wollte ihn anrufen. Sie wollte ihn sehen. Fühlte sich wie in den fünfzehn langen Jahren zuvor. Sie wollte ihn Wiedersehen. Sein gelassenes, schiefes Grinsen. Sein zerzaustes Haar. Seine Augen, eisig blau wie die Arktis. Seine Hände, die zu Riesenfäusten werden konnten. Sie wollte sehen, wie sie sich um Hobies Hals schlossen.
Sie blickte sich im Büro um. Die Sonnenstrahlen waren ein wenig weiter über den Schreibtisch gekrochen. Sie sah Chester Stone, teilnahmslos. Marilyn, zitternd. Curry, leichenblass und schwer atmend. Den Kerl mit der Schrotflinte, entspannt.
Reacher würde ihn zerschmettern, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Sie sah Tony, der sie unverwandt anstarrte. Und Hobie, der mit seiner manikürten Hand über den Haken fuhr, sie anlächelte, wartete. Sie wandte sich ab und blickte zu der geschlossenen Tür. Sie stellte sich vor, wie die Tür krachend aufflog und Jack Reacher hereinstürmte. Das wünschte sie sich mehr, als sie sich je irgendetwas gewünscht hatte.
»Okay«, flüsterte sie. »Ich rufe ihn an.«
Hobie nickte. »Bestellen Sie ihm, dass ich noch ein paar Stunden hier sein werde. Trotzdem sollte er sich lieber beeilen, wenn er Sie noch mal sehen will. Weil Sie und ich in ungefähr einer halben Stunde eine kleine Verabredung dort drüben in der Toilette haben.«
Sie erschauderte und stand auf. Sie hatte weiche Knie, und ihre Schultern brannten wie Feuer. Hobie kam hinter dem Schreibtisch hervor, nahm sie am Ellbogen, führte sie zur Tür und nach draußen hinter die Empfangstheke.
»Das hier ist unser einziges Telefon«, sagte er. »Ich mag keine Telefone.«
Er setzte sich auf den Stuhl und drückte mit der Spitze des Hakens die Neun. Reichte ihr den Hörer über die Theke. »Kommen Sie näher her, damit ich hören kann, was er zu Ihnen sagt. Marilyn hat mich bei einem Anruf getäuscht, und das soll mir nicht noch mal passieren.«
Er zwang sie dazu, sich zu ihm hinunterzubeugen, bis ihre Gesichter sich fast berührten. Er roch nach Seife. Er griff in seine Jackentasche, holte den ihm von Tony zugesteckten kleinen Revolver heraus und drückte ihn ihr gegen die Rippen. Sie hielt den Hörer so schräg, dass der obere Teil zwischen ihnen aufragte. Sie studierte die Konsole. Eine Unmenge von Knöpfen. Auch ein Schnellwahlknopf für die Notrufnummer 911. Sie zögerte einen Augenblick, dann wählte sie ihre Nummer. Das Telefon klingelte sechsmal. Bei jedem beschwor sie ihn: Sei da, sei da! Aber dann hörte sie ihre eigene Stimme, als ihr Anrufbeantworter sich einschaltete.
»Er ist nicht da«, sagte sie ausdruckslos.
Hobie lächelte.
»Pech für Sie«, meinte er.
Sie stand noch immer über die Theke gebeugt da, war wie gelähmt.
»Er hat mein Handy«, sagte sie plötzlich. »Das fällt mir gerade ein.«
»Okay, mit der Neun bekommen Sie eine Leitung.«
Sie unterbrach die Verbindung, wählte die Neun und danach ihre Handynummer. Am anderen Ende klingelte es viermal. Vier laute, dringende elektronische Signaltöne. Bei jedem betete sie: Melde dich, melde dich, melde dich, melde dich. Dann hörte sie ein Klicken.
»Hallo?«, sagte er.
Sie atmete aus. »Hi, Jack.«
»Hi, Jodie. Was gibt’s Neues?«
»Wo bist du?«
Ihre Stimme klang dringlich. Das ließ ihn kaum merklich zögern.
»Ich bin in St. Louis, Missouri«, antwortete er. »Bin gerade erst angekommen. Ich musste noch mal ins NPRC.«
Sie schnappte nach Luft. St. Louis? Ihre Kehle war plötzlich wie ausgetrocknet.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte er.
Hobie beugte sich zu ihr hinüber und berührte ihr Ohr mit seinen Lippen.
»Er soll sofort nach New York zurückkommen«, wisperte er. »Hierher, so schnell er kann.«
Sie nickte nervös, und er drückte ihr die Revolvermündung fester in die Rippen.
»Kannst du zurückkommen?«, wollte sie wissen. »Jetzt gleich.«
»Mein Rückflug ist für achtzehn Uhr gebucht«, erwiderte er. »Also kann ich gegen zwanzig Uhr dreißig in New York sein. Reicht das?«
Sie spürte, wie Hobie neben ihr grinste.
»Kannst du nicht früher kommen? Am besten sofort?«
Im Hintergrund war eine Stimme zu hören. Vermutlich die von Major Conrad. Sie erinnerte sich an sein Dienstzimmer, dunkles Holz, abgewetztes Leder.
»Früher?«, sagte er. »Hm, das müsste sich machen lassen. Ich könnte in ein paar Stunden da sein - je nachdem, welche Maschine ich erwische. Wo bist
Weitere Kostenlose Bücher