Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Wir nennen ihn Jack, Es gab keinen zweiten Vornamen, und er stand bereits auf der Geburtsurkunde, weil sein Vater auf dem Weg ins Krankenhaus den Kompanieschreiber aufgesucht und dieser sich den Namen notiert und per Fernschreiber ans Berliner Generalkonsulat gemeldet hatte. Ein weiterer US-Bürger, der Sohn eines im Ausland stationierten Offiziers: Jack Reacher.
Seine Mutter hatte nicht widersprochen. Sie war Französin und liebte ihren Mann. In den Nachkriegsjahrzehnten musste sie feststellen, dass zwischen Europa und Amerika eine gewaltige Kluft existierte. Der protzig zur Schau gestellte Reichtum Amerikas stand in krassem Gegensatz zu Not und Armut im vom Krieg zerstörten Europa. Aber ihr eigener Yankee aus New Hampshire hatte nichts für Reichtum und Ausschweifungen übrig. Er legte Wert auf einfache, schlichte Dinge, und sie stimmte damit völlig überein, selbst wenn sich dies auf die Namen ihrer Kinder auswirkte.
Er hatte ihren ersten Sohn Joe genannt. Nicht Joseph. Ohne zweiten Vornamen. Sie liebte den Jungen natürlich, hatte aber Schwierigkeiten mit dem Aussprechen seines Namens. Mit dem Namen Jack kam sie viel besser zurecht. Aus ihrem Mund klang er wie Jacques, was ein weit verbreiteter französischer Name war. Übersetzt hätte er James gelautet. Für sie war ihr zweiter Sohn immer James gewesen.
Doch niemand nannte ihn jemals bei seinem Vornamen. Joe wurde Joe genannt, und Jack hieß immer nur Reacher. Auch sie tat das ständig, ohne zu wissen, warum.
Nicht anders war es in der Schule. Er war ein aufgeweckter, ernsthafter Junge, der sich darüber wunderte, dass sein Name verkehrt herum angeordnet war. Bei seinem Bruder kam der Vorname immer vor dem Familiennamen. Nicht jedoch bei ihm. Wenn auf dem Schulhof zum Beispiel Softball gespielt wurde und der Junge, dem der Schläger gehörte, die beiden ersten Spieler seiner Mannschaft auswählte, deutete er auf die Brüder und rief: Ich nehme Joe und Reacher! So machten es alle Mitschüler. Auch die Lehrer. Und so war es auch schon im Kindergarten.
Aber er gewöhnte sich schnell daran und hatte keine Probleme damit. Er war und blieb für jedermann Reacher. Seine erste Freundin hatte ihn schüchtern gefragt: Wie heißt du? Reacher, hatte er geantwortet. Alle seine Freundinnen hatten ihn so genannt. Reacher, ich liebe dich, hatten sie ihm ins Ohr geflüstert. Ohne Ausnahme. Auch Jodie. Nach fünfzehn langen Jahren hatte sie noch gewusst, wie er gerufen wurde.
Aber sie hatte ihn am Telefon nicht Reacher genannt, sondern Hi, Jack gesagt. Für ihn war das wie das Schrillen einer Alarmglocke gewesen. Dann hatte sie gefragt: Wo bist du?, und das klang so nervös, dass er in Panik geraten war und im ersten Moment nicht verstanden hatte, was sie damit sagen wollte. Sein Vorname, ein glücklicher Zufall. Hi, Jack bedeutete hijack, Entführung. Er brauchte einen Augenblick, um das zu kapieren. Sie befand sich in Gefahr. In höchster Gefahr, aber sie war auch Leons Tochter und so clever, ihn mit zwei scheinbar harmlosen Silben zu warnen.
Hijack. Ein Alarm. Ein Einsatzbefehl. Er unterdrückte seine Angst und machte sich an die Arbeit. Als Erstes log er sie an. Der Feind musste getäuscht werden. Man setzt voraus, dass die eigenen Nachrichten abgehört werden, und benutzt sie, um Lügen und Falschmeldungen zu verbreiten. So sichert man sich einen Vorteil.
Reacher war nicht in St. Louis. Wozu auch, wenn es Telefone gab und man wohlwollende Menschen kannte wie Major Conrad? Er rief ihn von der Greenwich Avenue aus an und erklärte ihm, was er brauchte. Conrad meldete sich schon drei Minuten später wieder, weil die angeforderte Akte sich in der Abteilung A ganz in seiner Nähe befand, und las sie ihm laut vor. Als er das Gespräch zwölf Minuten später beendete, verfügte er über sämtliche Informationen, die er brauchte.
Dann raste er mit dem Lincoln auf der Seventh Avenue nach Süden und stellte ihn in einem Parkhaus einen Block nördlich der Twin Towers ab. Hastete zu Fuß weiter und befand sich bereits in der Eingangshalle des Südturms, als Jodie anrief. Nur siebenundachtzig Stockwerke unter ihr. Er sprach mit einem der Sicherheitsleute an der Theke, dessen Stimme sie dann im Hintergrund hörte. Seine Miene erstarrte. Er schaltete das Handy aus und fuhr mit dem Expressaufzug in den achtundachtzigsten Stock. Dort stieg er aus, holte tief Luft und zwang sich, Ruhe zu bewahren. Wahrscheinlich sah das Stockwerk unter ihm ebenso aus wie das, in dem er sich
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