Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
der Hand beschriftet; Einkommensteuer, Telefon, Strom, Wasser, Heizöl, Gartenpflege, Bedienungsanleitungen, Garantieurkunden und so weiter. Eine Mappe war in neuerer Schrift und in einer anderen Farbe mit LETZTER WILLE UND TESTAMENT bezeichnet. Nach einem kurzen Blick in die Hängemappen hob Jodie beide Ziehharmonikas aus den Schubladen. Reacher holte einen abgewetzten Lederkoffer aus dem Garderobenschrank im Flur, und sie verstauten die Mappen darin. Drückten den Kofferdeckel zu und ließen die Schlösser einschnappen. Reacher nahm das alte Foto vom Schreibtisch und betrachtete es erneut.
»Hast du ihm das verübelt?«, fragte er. »Wie er mich behandelt hat, als gehörte ich zur Familie?«
Sie blieb an der Tür stehen und nickte.
»Ich hab’s ihm verdammt übel genommen«, sagte sie. »Und irgendwann erzähle ich dir, warum.«
Als er sie forschend ansah, wandte sie sich ab und verschwand im Flur.
»Ich hole nur meine Sachen!«, rief sie noch. »Fünf Minuten, okay?«
Er trat ans Bücherregal und befestigte das alte Foto mit der Reißzwecke an seinem angestammten Platz. Dann knipste er die Schreibtischlampe aus und trug den Koffer aus dem Zimmer. Stand auf dem stillen Flur und sah sich um. Ein wohnliches Haus. Irgendwann war es ausgebaut und erweitert worden, das war klar. Es gab einen Kernbereich mit Räumen, die zweckmäßig zueinander angeordnet waren; weitere Räume lagen an dem abknickenden Flur, in dem er stand. Sie zweigten von scheinbar willkürlich angeordneten kleinen Innenfoyers ab. Zu klein, um als Labyrinth bezeichnet zu werden; zu groß, um überschaubar zu sein. Er schlenderte ins Wohnzimmer. Große Fenster gaben den Blick auf Garten und Fluss frei, und von dem offenen Kamin aus waren die Gebäude von West Point am anderen Flussufer zu sehen. Es roch nach alter Möbelpolitur. Das verblasste Dekor war von Anfang an schlicht gewesen. Neutraler Holzboden, cremeweiße Wände, schwere Möbel. Ein uralter Fernseher, kein Videorekorder. Bücher, Bilder, weitere Fotos. Nichts passte richtig zusammen. Dieser Raum war im Lauf der Jahre gewachsen, behaglich. Ein wirklicher Wohnraum.
Garber musste dieses Haus vor dreißig Jahren gekauft haben. Vermutlich als Jodies Mutter schwanger war. Das entsprach dem üblichen Verhaltensmuster. Offiziere mit Familie kauften oft ein Haus, meist in der Umgebung ihres ersten Dienstorts oder irgendeines anderen Stützpunkts wie West Point, von dem sie glaubten, er werde in ihrem Leben eine zentrale Rolle spielen. Sie kauften ein Haus und ließen es unbewohnt, während sie im Ausland stationiert waren. Damit besaßen sie einen Ankerplatz, ein eigenes Heim, in das sie nach ihrer Pensionierung zurückkehren konnten. Oder ein Haus, in dem ihre Familie leben konnte, wenn ein ausländischer Dienstort ungeeignet war oder die Ausbildung der Kinder Kontinuität erforderte.
Reachers Eltern waren diesen Weg nicht gegangen. Sie hatten kein Haus gekauft, Reacher hatte nie in einem eigenen Haus gewohnt. Karge Dienstbungalows, Offiziersheime und in den letzten Jahren billige Motels waren seine Unterkünfte gewesen. Und er war sich ziemlich sicher, dass er gar nichts anderes wollte, dass er nicht in einem eigenen Haus leben wollte. Diesen Wunsch hatte er nie gehabt. Das dafür erforderliche Engagement schüchterte ihn ein. Es war eine Belastung, genau wie der Koffer in seiner Hand. Die Rechnungen, die Grundsteuer, die Versicherung, die Gewährleistungen, der Unterhalt, die Entscheidungen - neues Dach oder neuer Heizkessel, Parkett oder Teppichboden die Finanzplanung. Die Gartenpflege. Er trat ans Fenster und blickte auf den Rasen hinaus. Gartenarbeit war symbolisch für das ganze vergebliche Unterfangen. Erst investierte man viel Zeit und Geld, damit das Gras wuchs, nur um dann viel Zeit und Geld dafür aufzuwenden, es wenig später wieder zu mähen. Man verflucht es, weil es zu hoch wächst, macht sich dann Sorgen darüber, es könnte verkümmern, und besprengt es im Sommer mit teurem Wasser und im Herbst mit teurem Rasendünger.
Verrückt. Aber falls irgendein Haus ihn hätte umstimmen können, wäre es vielleicht dieses gewesen. Es wirkte so behaglich, so anspruchslos. Reacher konnte sich beinahe vorstellen, darin zu leben. Und die Aussicht war grandios. Der breite Hudson River wälzte sich gemächlich an den Fenstern vorbei. Dieser alte Fluss würde ewig weiterströmen, ohne sich darum zu kümmern, was mit den Häusern und Gärten an seinen Ufern geschah.
»Okay, ich bin
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