Jack Reacher 09: Sniper
vermutet?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wieso auch? Alles schien rein zufällig geschehen zu sein. Der Täter hatte wahllos in die Menge geschossen, nicht wahr? Das haben Sie selbst gesagt. In den Fernsehnachrichten. Wir haben es beide gehört. Fünf zufällige Opfer, zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Keiner sprach.
Reacher wandte sich vom Fenster ab.
»In welcher Branche war Ted Archer tätig?«
»Entschuldigung, ich dachte, das wüssten Sie«, sagte der Ehemann. »Ihm gehört ein Steinbruch. Ein Riesenbetrieb, ungefähr vierzig Meilen nördlich von hier. Zement, Beton, Schotter. Vertikal strukturiert, sehr effizient.«
»Und wer war der Kunde, der abgesprungen ist?«
»Die Stadt«, sagte der Mann.
»Ein großer Kunde.«
»Verdammt groß. Die rege städtische Bautätigkeit beschert der gesamten Branche einen warmen Geldregen. Die Stadt hat steuerfreie Schuldverschreibungen über neunzig Millionen Dollar gegeben, nur um das erste Jahr zu finanzieren. Rechnet man die unvermeidlichen Kostenüberschreitungen dazu, liegen ihre Ausgaben im dreistelligen Millionenbereich.«
»Was für einen Wagen hat Ted verkauft?«
»Einen Mercedes.«
»Was hat er dann gefahren?«
»Einen Pick-up aus dem Betrieb.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Zwei Jahre lang Tag für Tag.«
»Erinnern Sie sich an die Marke?«
»Es war ein Chevy, glaub ich.«
»Ein alter hellbrauner Silverado? Mit einfachen Stahlfelgen?«
Der Mann starrte ihn an. »Woher wissen Sie das?«
»Eine letzte Frage«, sagte Reacher. »An Ihre Frau.«
Sie sah zu ihm auf.
»Hat Oline Ihnen erzählt, mit wem sie bei den Cops gesprochen hatte? War es ein Kriminalbeamter namens Emerson?«
Die Frau schüttelte bereits den Kopf. »Ich habe Oline gesagt, wenn sie nicht anrufen wolle, solle sie zur Polizeistation gehen, aber sie meinte, das sei ihr zu weit, dafür sei ihre Mittagspause zu kurz. Sie wollte lieber zum Staatsanwalt gehen. Zu seinem Büro hatte sie es vom DMV-Gebäude aus nicht weit. Und das war sowieso Olines Art. Sie hat’s immer vorgezogen, sich gleich nach ganz oben zu wenden. Also war sie bei Alex Rodin persönlich.«
Auf der Rückfahrt in die Stadt schwieg Helen Rodin verbissen. Sie zitterte am ganzen Körpger. Ihre Lippen waren zusammengepresst, die Wangen eingefallen und ihre Augen weit aufgerissen. Ihr Schweigen machte es Yanni und Reacher unmöglich, auch nur ein Wort zu äußern. Es war, als wäre alle Luft aus dem Wagen gesogen worden und hätte ein schwarzes Loch aus Schweigen zurückgelassen, das so laut dröhnte, dass es schmerzte.
Sie fuhr wie ein Roboter, kompetent, nicht schnell, nicht langsam, richtete sich ganz mechanisch nach den Fahrbahnmarkierungen, Verkehrsampeln und Vorfahrtsschildern. Sie parkte auf der Stellfläche unter Franklins Büro, ließ den Motor laufen und sagte: »Geht nur ohne mich hinauf. Ich kann einfach nicht mehr.«
Ann Yanni stieg aus und ging zur Treppe. Reacher blieb sitzen und beugte sich nach vorn.
»Es wird schon wieder«, tröstete er sie.
»Das glaube ich nicht.«
»Helen, stellen Sie den Motor ab und sehen Sie zu, dass Sie die Treppe hinaufkommen. Sie sind Anwältin, und Ihrem Mandanten droht die Todesstrafe.« Bis er ausgestiegen und um den Wagen herumgelaufen war, wartete Helen bereits am Fuß der Treppe auf ihn.
Franklin hockte wie immer vor seinem Computer. Er berichtete Reacher, Cash sei auf der Fahrt von Kentucky hierher, ohne eine einzige Frage gestellt zu haben. Teilte ihm mit, Ted Archer sei sonst nirgends in den Datenbanken zu finden gewesen. Dann fielen ihm das Schweigen und die Anspannung auf.
»Was ist los?«, fragte er.
»Wir sind nur noch einen Schritt weit entfernt«, erklärte Reacher. »Ted Archer war in der Stein- und Betonbranche tätig und ist bei all den neuen städtischen Bauvorhaben von einem Konkurrenten ausgestochen worden, der Schmiergelder gezahlt hat. Das hat er zu beweisen versucht, und er muss der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sein, weil sein Konkurrent ihn aus dem Weg geräumt hat.«
»Können Sie das beweisen?«
»Nur durch Schlussfolgerungen. Seine Leiche werden sie nicht finden, ohne die First Street wieder aufzureißen. Aber ich weiß, wo sein Truck steht – in Jeb Olivers Scheune.«
»Wieso dort?«
»Sie setzen Oliver für Jobs ein, die sie nicht selbst erledigen können. Wenn sie ihre Gesichter nicht zeigen wollen oder dürfen. Vermutlich hat Archer sie gekannt und einen weiten Bogen um sie gemacht. Aber Oliver war einer von hier.
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