Jack Reacher 09: Sniper
kalte Dusche, weil das Zimmer überheizt war. Aber sein Hemd war trocken, zwar brettsteif, aber wenigstens nicht eingelaufen. Einen Zimmerservice gab es hier nicht. Also verließ er das Hotel, um irgendwo zu frühstücken. Die Straßen waren voller Schwerlaster, die Kies transportierten, Füllmaterial brachten, Fertigbeton mischten, den Materialhunger der Baustellen befriedigten. Er wich ihnen aus und ging in Richtung Fluss. Passierte die unsichtbare Grenze, bis zu der die Luxussanierungen reichten. Fand ein Schnellrestaurant mit einfacher Auswahl, in dem vor allem Arbeiter verkehrten. Dort trank er Kaffee und aß Rührei mit Schinken. Er saß am Fenster, behielt die Straße im Auge und achtete auf Männer, die untätig in Hauseingängen herumlungerten oder in geparkten Wagen saßen. Nachdem er am Vorabend beschattet worden war, musste er logischerweise damit rechnen, erneut observiert zu werden. Also hielt er die Augen offen. Aber er sah niemanden.
Dann ging er auf der First Street nach Norden weiter. Die Sonne stand rechts von ihm am Himmel. Er benützte Schaufenster als Spiegel und beobachtete den Bereich hinter sich. Viele Leute liefen in seine Richtung, aber keiner von ihnen schien speziell ihm zu folgen. Er vermutete, ein etwaiger Beschatter würde auf der Plaza auf ihn warten, um bestätigt zu bekommen, was er zu sehen erwartete: Der Zeuge sucht die Anwältin auf .
Die Fontäne plätscherte. Der Zierteich war inzwischen wieder halb voll. Die Erinnerungsgaben lagen noch an Ort und Stelle, sorgfältig aufgereiht, nun einen Tag älter, ein wenig verblasster, ein wenig verwelkter. Vermutlich würden sie ungefähr eine Woche lang dort verbleiben, um dann diskret weggeräumt zu werden. Und das Leben der Stadt würde weitergehen.
Er setzte sich für einen Augenblick mit dem Rücken zu dem schwarzen Glasturm auf den NBC-Monolithen – wie jemand, der Zeit totschlagen muss, weil er zu früh dran ist. Was tatsächlich stimmte. Es war erst 7.45 Uhr. Auch andere Leute befanden sich in dieser Situation. Sie standen herum, allein oder in Zweier- und Dreiergruppen, rauchten letzte Zigaretten, lasen die Morgennachrichten, gönnten sich vor der täglichen Plackerei noch ein wenig Ruhe. Reacher konzentrierte sich zunächst auf einzelne Männer, die Zeitung lasen. Das war ein ziemlich traditioneller Beschattungstrick. Seiner Ansicht nach würde er jedoch bald durch den Trick mit aus Gebäuden vertriebenen Rauchern ersetzt werden. Kerle, die sich in Hauseingängen herumdrückten und rauchten, waren die neuen Unsichtbaren. Oder Typen mit Handys. Mit seinem Nokia am Ohr konnte man endlos lange herumstehen, ohne dass jemand einen zweiten Gedanken auf einen verschwendete.
Letzten Endes entschied er sich für einen Kerl, der mit dem Handy telefonierte und rauchte: ein kleiner Mann von ungefähr sechzig Jahren. Vielleicht etwas älter. Ein leicht körperbehinderter Mann, aus dessen schiefer Haltung schmerzhafte Anspannung sprach. Daran konnte eine alte Rückenverletzung schuld sein. Oder gebrochene Rippen, die vor vielen Jahren schlecht eingerichtet worden waren. Jedenfalls wirkte er verspannt und gereizt. Bestimmt kein Mensch, der Spaß an langen Telefongesprächen hatte. Trotzdem schwatzte er nun schon auffällig lange in sein Handy. Er hatte schütteres graues Haar, das er sich erst kürzlich, aber nicht sehr flott hatte schneiden lassen. Und er trug einen Zweireiher, einen teuren Maßanzug, der jedoch nicht aus den Vereinigten Staaten kam. Der Anzug war unelegant, altmodisch, für die Jahreszeit zu warm. Vielleicht aus Polen. Oder aus Ungarn. Jedenfalls aus Osteuropa. Sein Gesicht wirkte blass, seine Augen waren dunkel. Sie blickten kein einziges Mal zu Reacher.
Reacher sah auf seine Armbanduhr. 7.55 Uhr. Er glitt von dem blank polierten Granit und betrat das Foyer des schwarzen Glasturms.
Grigor Linsky hörte auf zu schauspielern und drückte wirklich die Kurzwahltaste seines Handys.
»Er ist hier«, sagte er. »Fährt gerade nach oben.«
»Hat er dich gesehen?«, fragte der Zec.
»Ja, bestimmt.«
»Gut, das war das letzte Mal. Zukünftig bleibst du unsichtbar.«
Reacher traf Helen Rodin bereits an ihrem Schreibtisch sitzend an. Sie erweckte den Eindruck, als befände sie sich schon längere Zeit dort. Sie trug wieder ihren schwarzen Hosenanzug, diesmal jedoch mit einem lockeren Seidentop. Es hatte einen schlichten U-Ausschnitt und war porzellanblau – genau die Farbe ihrer Augen. Ihr Haar hatte sie zu einem
Weitere Kostenlose Bücher