Jack Reacher 09: Sniper
würden immer paarweise kommen wollen, was zusammen mit Helen drei Personen am Krankenbett bedeutet hätte. Deshalb verdankte sie den Besucherbestimmungen einen Tag, an dem sie ihren Mandanten ganz allein sprechen konnte.
»Seine Schwester ist eben bei ihm«, erklärte der Arzt. »Sie wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Ende ihres Besuchs abwarten würden, bevor jemand von Ihnen den Raum betritt.«
Als der Krankenhausarzt gegangen war, sagte Helen: »Ich gehe zuerst rein – allein. Ich muss mich ihm vorstellen und sein Einverständnis dazu einholen, dass ich ihn vertrete. Dann sollte Dr. Mason mit ihm reden, denke ich. Danach müssen wir aufgrund ihrer Erkenntnisse gemeinsam entscheiden, wie’s weitergehen soll.«
Sie sprach schnell. Reacher merkte, dass sie ein wenig nervös war. Leicht angespannt. Das schienen hier außer ihm alle zu sein, denn keiner von ihnen war jemals James Barr begegnet. Er war Helens Mandant, allerdings einer, den sie nicht wirklich wollte. Für Mason und Niebuhr stellte er ein Studienobjekt dar. Vielleicht das Thema einer wichtigen Arbeit, die ihnen Ruhm und Ehre einbringen konnte. Vielleicht wartete hier eine neue Krankheit – Barrs Syndrom – darauf, beschrieben zu werden. Ähnliches galt für Alan Danuta. Möglicherweise sah er hier einen Fall, der dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt werden, einen Fall, der in die Lehrbücher eingehen würde. Indiana gegen Barr. Barr gegen die Vereinigten Staaten. Sie alle investierten in einen Mann, den sie noch nie gesehen hatten.
Jeder wählte einen grünen Kunstledersessel und machte es sich bequem. In dem kleinen Wartebereich, der nach einem Desinfektionsmittel mit Chlorzusatz roch, war es still. Zu hören waren nur ein gelegentliches Rauschen in Wasserleitungen und das elektronische Pulsieren einer Maschine in einem anderen Raum. Keiner sagte etwas, aber allen schien bewusst zu sein, dass dies ein langer, langsamer Prozess sein würde. Da hatte es keinen Zweck, schon am Anfang ungeduldig zu sein. Reacher setzte sich Mary Mason gegenüber und musterte sie. Für eine Sachverständige war sie relativ jung. Sie vermittelte einen offenen und warmherzigen Eindruck. Ihre Brille hatte große Gläser, die ihre Augen deutlich erkennen ließen. Ihr Blick wirkte freundlich, einladend und beruhigend. Wie viel davon beruflich bedingt und wie viel davon echt war, konnte Reacher nicht beurteilen.
»Wie machen Sie das?«, fragte er sie.
»Die Beurteilung?«, sagte sie. »Ich gehe immer von der Annahme aus, dass wahrscheinlich kein Täuschungsversuch vorliegt. Jede Hirnverletzung, die ein zweitägiges Koma nach sich zieht, bewirkt ziemlich sicher auch einen Gedächtnisverlust. Dieser Aspekt ist nachgewiesen und dokumentiert. Dann beobachte ich den Patienten einfach. Menschen, die wirklich an Gedächtnisverlust leiden, sind wegen ihres Zustands sehr beunruhigt. Sie sind desorientiert, sogar ängstlich. Man merkt ihnen an, dass sie sich wirklich erinnern wollen. Simulanten verhalten sich anders. Sie versuchen, die fraglichen Tage zu meiden. Sie scheuen geistig vor ihnen zurück. Manchmal sogar körperlich. Das führt oft zu einer recht eindeutigen Körpersprache.«
»Irgendwie subjektiv«, bemerkte Reacher.
Mason nickte. »Die Beurteilung ist im Prinzip subjektiv. Es ist sehr schwierig, etwas Negatives zu beweisen. Mit Enzephalogrammen lassen sich unterschiedliche Gehirntätigkeiten nachweisen, aber was sie tatsächlich bedeuten , bleibt einer subjektiven Bewertung überlassen. Hypnose kann nützlich sein, aber Gerichte schrecken im Allgemeinen vor ihr zurück. Deshalb könnte man tatsächlich sagen, dass ich eine Meinung äußere, sonst nichts.«
»Wen zieht die Anklagebehörde als Gutachter hinzu?«
»Jemanden wie mich. Ich habe auch schon für Staatsanwälte gearbeitet.«
»Dann heißt es also, ›er hat gesagt, sie hat gesagt‹?«
Mason nickte erneut. »Entscheidend ist meist, wer die meisten Abkürzungen hinter seinem Namen stehen hat. Darauf fahren die Geschworenen ab.«
»Bei Ihnen sind’s viele.«
»Mehr als bei den meisten Leuten«, sagte Mason.
»Wie viel wird er vergessen haben?«
»Mindestens ein paar Tage. Hat das Trauma sich am Samstag ereignet, wäre ich sehr überrascht, wenn er ab Mittwoch noch etwas wüsste. Und davor dürfte eine mindestens ebenso lange Grauzone liegen, in der er sich an manche, aber nicht an alle Dinge erinnert. Aber das ist nur das Minimum. Ich kenne Fälle, in denen Monate gefehlt haben – und
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