Jack Reacher 09: Sniper
das zum Teil nach einfachen Gehirnerschütterungen.«
»Kehrt die Erinnerung später zurück?«
»Vielleicht an Dinge aus der vorgelagerten Grauzone. Unter Umständen kann er mit Ereignissen beginnen, an die er sich noch erinnert, und sich von dort aus vortasten. Erinnert er sich ans letzte Mittagessen, kann er sich vielleicht bis zum Abendessen vorarbeiten. Erinnert er sich daran, im Kino gewesen zu sein, fällt ihm vielleicht die Heimfahrt ein. Aber irgendwo gibt’s eine unüberwindbare Grenze – typischerweise beim Einschlafen am letzten Tag, an die er sich erinnert.«
»Wird er sich an Ereignisse vor vierzehn Jahren erinnern können?«
Mason nickte. »Sein Langzeitgedächtnis dürfte nicht gelitten haben. Wegen offenbar tatsächlich ablaufender chemischer Transfers zwischen Teilen des Gehirns und weil jedes Gehirn anders ist, scheint die interne Definition von ›langfristig‹ von Mensch zu Mensch verschieden zu sein. Dieses Teilgebiet der Biologie ist bisher nicht besonders gut erforscht. Heutzutage verwenden viele Leute Computerbegriffe, aber das ist ganz falsch. Hier geht’s nicht um Festplatten und Speicher mit wahlfreiem Zugriff. Das Gehirn ist durch und durch organisch. Stellen Sie sich vor, Ihnen fiele ein Sack Äpfel die Treppe hinunter. Manche sind danach angestoßen, andere jedoch nicht. Aber ich würde sagen, dass vierzehn Jahre für jeden unter den Begriff langfristig fallen müssten.«
In dem kleinen Wartebereich wurde es wieder still. Reacher horchte auf den fernen elektronischen Puls. Eine Sinuskurve, vermutete er, von einem Gerät, das einen Herzschlag überwachte oder anregte. Ungefähr sechzig Schläge in der Minute. Ein beruhigender, fast einschläfernder Rhythmus. Dann öffnete sich auf ungefähr halber Länge des Korridors eine Tür, und Rosemary Barr trat aus einem Zimmer. Sie sah abgemagert, erschöpft, übernächtigt und zehn Jahre älter aus als am Vortag. Sie blieb kurz stehen, sah nach links und nach rechts und kam dann langsam auf den Wartebereich zu. Helen Rodin erhob sich und ging ihr entgegen. Die beiden redeten leise miteinander. Reacher konnte nicht hören, was sie sagten. Ein zweigleisiger Zustandsbericht, vermutete er, erst medizinisch, dann juristisch. Danach nahm Helen Rosemarys Arm und führte sie zu der kleinen Gruppe. Rosemary ließ ihren Blick über die beiden Psychiater, Alan Danuta und Reacher gleiten, sagte jedoch nichts. Dann ging sie in Richtung Sicherheitstheke davon. Wandte sich nicht noch mal um.
»Sie geht uns aus dem Weg«, sagte Niebuhr. »Wir sind alle hier, um in den Angelegenheiten ihres Bruders herumzustochern – physisch, mental, juristisch, metaphorisch. Das ist zudringlich und unschön. Und indem sie uns zur Kenntnis nimmt, würde sie zugeben, dass ihr Bruder sich in ernster Gefahr befindet.«
»Vielleicht ist sie nur müde«, meinte Reacher.
»Ich gehe jetzt zu ihm rein«, verkündete Helen.
Sie lief den Korridor entlang und verschwand in dem Zimmer, aus dem Rosemary gekommen war. Reacher sah ihr nach, bis die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. Dann wandte er sich wieder an Niebuhr.
»Haben Sie schon mal einen Fall wie diesen erlebt?«, fragte er ihn.
»Nötigung? Haben Sie Erfahrung damit?«
Reacher lächelte. Er hatte noch mit keinem Psychiater gesprochen, der nicht gern Fragen mit Gegenfragen beantwortete. Vielleicht lernten sie das ab dem ersten Tag ihrer Fachausbildung.
»Ich habe viele Fälle kennengelernt«, sagte er.
»Aber?«
»Meist war das Vorhandensein einer ernsten Bedrohung deutlicher nachweisbar.«
»Ist eine Bedrohung seiner Schwester denn nicht ernst genug? Meines Wissens stammt diese Hypothese sogar von Ihnen.«
»Sie ist nicht entführt worden. Sie wird nirgends gefangen gehalten. Er hätte dafür sorgen können, dass sie bewacht wird. Oder sie auffordern können, eine Zeit lang zu verreisen.«
»Genau«, sagte Niebuhr. »Daraus können wir nur schließen, dass er Anweisung hatte, eben das nicht zu tun. Sie sollte unwissend und ungeschützt bleiben. Das beweist uns, wie stark der ausgeübte Zwang gewesen sein muss. Und es hat ihm bewiesen, wie machtlos er im Vergleich dazu war. Tagtäglich. Er muss große Angst, Hilflosigkeit und Schuldgefühle wegen seines Gehorsams empfunden haben.«
»Haben Sie jemals erlebt, dass ein vernünftiger Mensch Angst genug hatte, um eine solche Tat zu begehen?«
»Ja«, antwortete Niebuhr.
»Ich auch«, sagte Reacher. »Ein- oder zweimal.«
»Wer ihn bedroht hat, muss ein
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